Aus unserem Museum

Unter Uhrmachern ist Svend Andersen eine lebende Legende. Zwei Uhren in unserem Museum illustrieren seine virtuose Verspieltheit.

Man kann sich Svend Andersen schlecht ohne seine Brille mit der herunterklappbaren Lupe vorstellen, so sehr ist der gebürtige Däne mit der Uhrmacherei verheiratet. Auch jetzt, wo wir ihn am letzten Ferientag in seinem Landhaus in Fort l’Ēcluse in der Nähe von Genf erreichen, denkt der Achtzigjährige schon wieder an seinen Beruf: «Morgen erwartet mich sicher wieder eine Menge Arbeit im Atelier. Doch heute freue ich mich auf das Gemüsepflücken – das ist wohl ein Überbleibsel aus meiner Vergangenheit auf dem Land.»

Svend Andersen, geboren 1942, wuchs auf einem Hof im Süden Dänemarks auf, wo er schon früh seine Begeisterung für die Mechanik entdeckte. «Anfangs waren es vor allem Fahrräder, die es immer wieder zu reparieren gab», schmunzelt er. Nach der Schule bewarb er sich um eine Lehre bei einer Firma, die Präzisionsinstrumente für die Schifffahrt baute. Er hätte die Stelle auch bekommen, doch die Handelskammer riet seinem Vater davon ab: «Sie meinten, die Firma könnte nächstes Jahr pleitegehen.» Also bewarb er sich bei einem Uhrmacher nahe der deutschen Grenze, wo er seine Ausbildung durchzog und abschloss.

Nun wollte er aber wissen, wie die Uhren, die er zur Genüge zerlegt und repariert hatte, hergestellt werden, und reiste im September 1963 in die Schweiz. «Die Jobangebote der Uhrenfabriken waren halb so gut bezahlt wie diejenigen der Uhrenfachgeschäfte, die darüber hinaus froh waren über einen Uhrmacher, der auch Englisch konnte. Darum ging ich als Erstes zu einem Uhrmacher im Wallis – richtige Berge hatte ich zuvor in meinem Leben noch nie gesehen.»

«RICHTIGE BERGE HATTE
ICH ZUVOR IN MEINEM LEBEN
NOCH NIE GESEHEN.»
 

Danach folgten fünf Jahre bei Gübelin in Luzern und Genf, eine Phase, in der Andersen in seiner Freizeit immer mehr an eigenen Projekten zu arbeiten begann. Bald präsentierte er der Öffentlichkeit seine erste Entwicklung: eine Flasche, die anstelle eines Schiffs, wie er es aus seiner Heimat kannte, eine Uhr in ihrem Bauch barg. Die Bestandteile des Uhrwerks und das in Streifen geschnittene Zifferblatt hatte er mithilfe von eigens dazu entwickelten Werkzeugen durch den 18 Millimeter engen Flaschenhals bugsiert und im Inneren zusammengesetzt. Innert Kürze schaffte es die Flaschenuhr auf Titelseiten rund um die Welt. Fortan wurde Andersen der «Uhrmacher des Unmöglichen » genannt.

NEUN JAHRE PATEK PHILIPPE

Die Bekanntheit brachte ihm seinen nächsten Posten ein, den Traum eines jeden Uhrmachers: Er durfte bei Patek Philippe im «Atelier des grandes complications» wirken, wo er seinen Erfindergeist während neun Jahren einbrachte. 1979 machte er sich selbstständig und gründete seine eigene Werkstatt, wo er für Sammler Taschenuhren und vermehrt auch Armbanduhren mit Komplikationen nach Wunsch anfertigte. 1985 rief er einen internationalen Zusammenschluss unabhängiger Uhrmacher ins Leben, die Académie Horlogère des Créateurs Indépendants, kurz AHCI (siehe Box). Sie ist noch heute die wichtigste Plattform für freischaffende Uhrmacher.

«Einer meiner wichtigsten Kunden seit der Gründung meines eigenen Ateliers war Theodor Beyer. Er hat vier meiner Flaschenuhren verkauft und mir auch mit meiner Einbürgerung geholfen», erinnert sich Andersen. Bei der Flaschenuhr im Museum Beyer handelt es sich bereits um eine Weiterentwicklung aus doppelwandigem Glas, die Uhr kam diesmal durch eine Öffnung im Flaschenboden: «Das ist sozusagen eine Flasche in der Flasche. Dadurch kann man das Gefäss mit einer Flüssigkeit füllen, ohne dabei die Uhr zu ertränken. Was für ein Schnaps da drin ist, weiss ich allerdings nicht: Ich übergab Theodor Beyer die Flasche leer, er hat sie selber abgefüllt.»

EIN WERTVOLLER FUND

Andersen überlegt kurz, um dann die Geschichte der kleinsten Armbanduhr mit Kalender zu erzählen, die sich in der Sammlung Beyer befindet: «Eines Tages erfuhr ich von einem französischen Sammler, dass in Paris ein seit 1939 verschlossener Safe geöffnet worden war, der unter anderem 15 winzige Uhrwerke von LeCoultre barg. Der Sammler fragte, ob ich an den Werken interessiert sei.» Andersen schlug zu, obwohl er noch keinen Plan hatte, was er mit den Werken anfangen würde.

«Als ich in einem Auktionshaus einen Füllfederhalter mit eingebautem mechanischem Kalender sah, kam mir die zündende Idee.» 1989 war die kleinste Uhr der Welt mit mechanischem Kalender fertig; sie schaffte es sogar ins «Guinness-Buch der Rekorde». Nachdem die Beyer Chronometrie vier davon hatte verkaufen können, fragte Theodor Beyer den genialen Uhrmacher, ob er möglicherweise noch eine fürs Museum hätte. «Es war aber nur noch der Prototyp übrig, und der war in alle Einzelteile zerlegt», sagt Andersen und wird nachdenklich: «Natürlich war es uns eine Ehre, diesen Prototyp für das Uhrenmuseum Beyer wieder zusammenzubauen. Wir liessen ihn fotografieren, fertigten eine Dokumentation an, doch just als wir alles fein säuberlich beisammen hatten, verstarb Teddy Beyer.» 2013 durfte René Beyer das wertvolle Geschenk von Svend Andersen ans Uhrenmuseum Beyer entgegennehmen.

GEMEINSAM GEHTS BESSER

Svend Andersen betreibt mit 80 Jahren noch voller Vitalität ein Uhrmacheratelier, in dem er auch scheinbar Unmögliches möglich macht: 
andersen-geneve.ch

In der Szene der unabhängigen Uhrmacher ist Svend Andersen ein Anker. Mit Vincent Calabrese, bekannt für seine stabförmigen Uhrwerke, gründete er 1985 die Académie Horlogère des Créateurs Indépendants (AHCI), um unabhängigen Uhrmachern eine Plattform zu schaffen, die es ermöglichte, etwa an Uhrenmessen an einem gemeinsamen Stand besser wahrgenommen zu werden und gleichzeitig die Kosten im Rahmen zu halten. Der internationale Zusammenschluss zählt heute 34 Mitglieder: Die AHCI war unter anderem Sprungbrett für Uhrenmarken wie Franck Muller, Urwerk und F.P.Journe.
ahci.ch

Beyer Chronometrie