Cocos Code

Als Teenager wuchs Gabrielle Chanel im Waisenhaus auf: Die Abbaye d’Aubazine inspirierte sie zu zentralen Stilmerkmalen ihres Schaffens. Eine Spurensuche.

Wenn Schwester Christophora von Gabrielle Chanel erzählt, huscht ein warmherziges, verzeihendes Lächeln über ihr Gesicht. «Ach, Gabrielle! Während der Morgengebete war ihr wohl fürchterlich langweilig. Noch vor dem Frühstück musste sie auf der harten Kirchenbank sitzen und schweigen. Natürlich liess sie ihre Blicke wandern, froh um Ablenkung. Dabei brannten sich die Dinge in ihr Unterbewusstsein. » Die Nonne zeigt zum hölzernen Löwenkopf im Chorgestühl: «Der hier erscheint in vielen ihrer Kreationen und ziert auch ihren Grabstein in Lausanne. Gabrielles Sternzeichen war Löwe – und sie war ziemlich abergläubisch.» Verständnisvolles Schmunzeln. «Oder da, die beiden gespiegelten, ineinander verschlungenen C, ihr späteres Logo: Das hatte sie wohl von diesem Kirchenfenster.»

Schwester Christophora führt durch das Kloster Aubazine, wo Gabrielle Chanel zwischen ihrem zwölften und achtzehnten Lebensjahr aufwuchs. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte ihr Vater keine bessere Lösung gefunden, als sie an einem kalten Tag im März 1895 hier abzusetzen und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Sie war nicht mehr Kind und noch nicht Jugendliche – der Ort hätte auf Gabrielle abgeschotteter nicht wirken können.

Aubazine liegt im Herzen Frankreichs, irgendwo im Nirgendwo des Zentralmassivs, umgeben von weiten dichten Wäldern. Alte Gebäude gruppieren sich um einen malerisch wilden Garten mit Ziehbrunnen. Ein Teil des Kreuzgangs ist erhalten und freundlich mit Blumensträussen geschmückt. Über allem thront ein markanter achteckiger Glockenturm. «Wahrscheinlich musste sich Gabrielle oft genug anhören, wie historisch bedeutend dieser Turm ist», lacht Schwester Christophora: «Es heisst zwar, dass der Flaconverschluss von Chanel No 5 von der achteckigen Form der Place Vendôme inspiriert ist – aber Gabrielle hatte das spezielle Oktagon schon hier kennengelernt.»-

DER SCHÖNE SCHEIN

In Aubazine verstand Gabrielle schnell, wie das so läuft mit dem schönen Schein. Das Kloster war nicht nur Waisenhaus, sondern auch Internat für besser situierte Mädchen: Ihre hübschen Röckchen unterstrichen ihren Status. Sie assen, spielten und schliefen drüben im eleganten Wohnturm. Mit den in kratzige Wäsche gewandeten Waisen hatten sie ausserhalb der Schulzimmer keinen Kontakt. «Die Eltern bestanden darauf» – Schwester Christophora rollt mit den Augen. An den Wochenenden fuhren schicke Autos vor und holten die feinen Mädchen ab, während das Leben für Gabrielle und ihre Kolleginnen auch sonntags, in den Ferien oder an Weihnachten gleichtönig weiterging, tagein, tagaus. Mit viel Beten – und mit Singen, wenn eine Feier anstand und sich das imposante Kirchenschiff mit Menschen füllte.

IHRE HÜBSCHEN
RÖCKCHEN
UNTERSTRICHEN
IHREN STATUS.

DER «KOMET» UND DIE TREPPE

Dann besammelten sich die Mädchen im ersten Stock vor ihren Klassenzimmern – auf einem Steinboden aus dem 17. Jahrhundert mit einem gar geheimnisvollen Mosaik. Die mittelalterlichen Symbole, der Mond, die Sonne, die Bischofsmitra und vor allem die grossen fünfzackigen Sterne muten heute esoterisch an. Wie oft muss Gabrielle diese Sterne studiert haben? Der «Komet» jedenfalls soll zu einem ihrer Hauptmotive werden und zum wohl berühmtesten ihrer Schmuckstücke, einer diamantenbesetzten Brosche aus ihrer einzigen Haute-Joaillerie-Kollektion, die 1932 vorgestellt wurde.

Die Mädchen sangen sich also über dem Mosaik ein und schritten dann feierlich durch das niedrige Tor, das ins Querschiff der Kirche führt und über 36 Stufen hinab zum wartenden Publikum. Auf einer Treppe kann man sich vor Blicken nicht verstecken, man ist ausgestellt und nimmt die Stufen mit durchgestrecktem Rücken, möglichst erhaben. Auch diesen Akt verinnerlichte Gabrielle, die später als erste Modeschöpferin ihre Models über eine Treppe defilieren liess.

Auf der Führung durch das Kloster und durch die Zeit betreten wir das Skriptorium, die Schreibstube, die den Waisen bei Regenwetter und an bitterkalten Wintertagen auch als Aufenthaltsraum diente. Schwester Christophora öffnet die Tür zu einem engen Nebenraum ohne Fenster, ohne Licht: «Die Mädchen waren in keinem einfachen Alter. Wenn es nicht mehr anders ging, mussten sie hier hinein.» Sie hebt die Schultern, als wollte sie sich entschuldigen. «Es herrschten andere Zeiten… Aber man musste wohl sehr ungehorsam gewesen sein, um hier zu landen. Es war wohl mehr die Drohung, die Eindruck machte.» Das Klischee der traurigen Waisenjugend jedenfalls tauge wenig für Aubazine, sagt Schwester Christophora: «Viele Ehemalige kehrten später zurück, teilweise bis ins Greisenalter. Und alle erzählten von der warmherzigen Atmosphäre damals. Davon, wie sehr sie sich aufgehoben gefühlt hätten. Hier waren sie Teil einer Familie, die sie draussen nicht mehr hatten.»

Ausserdem konnten sie bei ihrer Entlassung mit achtzehn Jahren schreiben und rechnen und verfügten über eine Ausbildung, mit der sie Arbeit fanden. Das war nicht selbstverständlich in jener Zeit, als Frauen möglichst schnell verheiratet wurden und dem Mann zu dienen hatten. In der Abbaye d’Aubazine aber ging es um nichts weniger als um weibliche Selbstbestimmung, um möglichst viel persönliche Freiheit. Diese Idee verfehlte ihre Wirkung nicht, zuletzt bei Gabrielle, dem unkonventionellen, wilden Mädchen mit dem eigensinnigen Kopf. Sie lernte hier nähen. Denn in feinen Kleidern, so wurde ihr täglich vorgeführt, kam man im Leben weiter. 

DIE RÜCKKEHR VON CHANEL

Geschlafen haben die Waisen zuoberst, im Dachstock: In einem weiss vergipsten Raum, in dem die einfachen schwarzen Kleider eine solche Wirkung entfalteten, dass Gabrielle Chanel später die Farben Schwarz und Weiss in den Mittelpunkt ihrer Schöpfungen stellte und sie zu einem ihrer Markenzeichen machte. Dabei rebellierte sie mit ebenso schlichten wie bequemen Kreationen gegen die üppigen Gepflogenheiten jener Zeit. Ganz im Sinne der Selbstbestimmung befreite sie die Damen von Korsetts, voluminösen Roben, ausufernden Hüten und schuf zeitlose Eleganz. Wenn Stilbewusstsein eine Prägung ist, muss es Gabrielle bei den einzigen weiblichen Bezugspersonen gefunden haben, die sie hatte – den in schwarze Roben mit weissen Krägen gehüllten Nonnen von Aubazine.

«ALLE ERZÄHLTEN
VON DER
WARMHERZIGEN
ATMOSPHÄRE
DAMALS.»

Auch als Dame von Welt schien Gabrielle Chanel nicht vergessen zu haben, was sie den Nonnen von Aubazine verdankte. Sie sprach zwar nie über die Zeit im Waisenhaus. Doch wenn sie in Paris ihre Siebensachen packte, um den Sommer in ihrem Haus La Pausa in Südfrankreich zu verbringen, erwähnte sie, dass sie unterwegs ihre «Tanten» besuchen gehe. Und im kleinen Dorf wird gern erzählt, wie eines Tages eine Limousine vorfuhr, eine elegante Frau ausstieg und mit zwei schweren Taschen im Kloster verschwand. Die Metzgerstochter hatte genau beobachtet, wie die Dame nach zehn Minuten wieder rauskam – ohne Taschen – und in der Limousine davonfuhr. Wenige Tage später gaben die Nonnen teure Arbeiten in Auftrag. Fakten fehlen, doch Schwester Christophora geht davon aus, dass Gabrielle Chanel Wohltäterin des Klosters blieb, bis sie 1971 verstarb.

«HUMOR IST FREIHEIT»

Da war Schwester Christophora dreiundzwanzig und lebte in Boston. Warum sie sechs Jahre später in den Zisterzienserorden eintrat und ein Gelübde ablegte, kann sie sich noch heute nicht schlüssig erklären: «Ein solcher Entscheid bleibt ein Mysterium, bei allen von uns.» Sie habe verschiedene Orden besucht und sei geblieben, wo sie am meisten Humor fand. «Denn Humor ist Freiheit», sagt sie. «Ich habe es nie bereut; im ganzen Leben als Nonne habe ich mich weder eingesperrt noch unterjocht oder fremdbestimmt gefühlt. Wie viele Frauen können das von sich behaupten?»

Ausgrenzung kannte sie trotzdem: Die neunzehn anderen Nonnen, die 1978 im Kloster lebten, mochten die Amerikanerin mit ihrem fürchterlichen Französisch nicht leiden und schickten sie los, um die Klosterführungen zu übernehmen. «Sie dachten wohl, damit könnten sie mich vergraulen, und ich würde in die USA zurückkehren», lacht Schwester Christophora. Doch bei den Führungen fand sie ihre Faszination für Coco Chanel: «Nicht für ihre Mode, die interessiert mich wenig. Aber für das Mädchen, das diese Atmosphäre aufgesaugt hatte, einen Kometen als Glücksbringer hatte, in einem Cabaret sang und zu einer grossen Figur wurde. Ich versuchte, die Dinge hier so anzuschauen wie sie. Plötzlich ergab vieles Sinn.»

Heute bewohnen Schwester Christophora und eine 96-jährige Mitschwester als letzte Nonnen die Abbaye d’Aubazine. Ein Hausmeister sorgt dafür, dass es nirgends reinregnet, dass der paradiesische Garten gepflegt ist und die vierzehn Hühner sowie die Gockel Ernest und Hannibal genug Futter bekommen. Er war es auch, der das wilde Katzenbaby rettete und aufpäppelte. Alle erdenklichen Namen habe man ausprobiert: Das Tier schien für Menschen bloss Verachtung übrigzuhaben. Bis der Hausmeister «Chachanel» rief: Das Kätzchen habe seine Ohren gespitzt, sei zu ihm gekommen und habe schnurrend um seine Beine gestrichen. Schwester Christophora zwinkert schelmisch und lacht ihr herzliches Lachen: «Wer weiss, vielleicht ist an der Reinkarnation doch mehr dran, als wir denken.»


COCO CHANEL ÜBER …

Weiblichkeit: «Das Alter spielt keine Rolle: Sie können mit zwanzig hinreissend sein, mit vierzig charmant und den Rest Ihres Lebens unwiderstehlich.» (Aus «Paris-Match», 1950)

Mode: «Die Mode existiert nicht nur in Kleidern. Mode liegt in der Luft, es ist der Wind, der sie herbeiträgt, man kann sie fühlen, einatmen. Sie ist überall, als Ausdruck auch von aktuellen Ideen, Moralvorstellungen und Ereignissen.» (Aus «L'Allure de Chanel» von Paul Morand, 1996)

Freiheit: «Ich möchte Kleider machen, mit denen sich Frauen in ihrer Zeit wohlfühlen. Kleider, die ihnen helfen zu leben.» (Aus «Elle», 1958)

Schmuck: «Ich mag falschen Schmuck, denn ich finde es provokativ, Milliarden um den Hals zu tragen, weil man reich ist. Schmuck ist nicht dazu da, um reich zu wirken. Schmuck ist dazu da, um geschmückt auszusehen. Das ist nicht das Gleiche.» (Aus «Les Années Chanel» von Pierre Galante, 1972)


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