Damals, 1900...

Zürich ächzt unter Zuwanderung und Wohnungsnot. Doch noch geniesst Adelrich Beyer mit den fünf Kindern seine Villa am Zürichberg.

Man kann es sich kaum mehr vorstellen: 1892 waren Aussersihl, Enge, Fluntern, Hirslanden, Hottingen, Oberstrass, Riesbach, Unterstrass, Wiedikon, Wipkingen und Wollishofen noch eigenständige Dörfer. Am 1. Januar 1893 wurden sie eingemeindet und machten Zürich zur ersten Grossstadt der Schweiz: Die Bevölkerung wuchs über Nacht von 31 000 auf 121 000 Einwohner. Sieben Jahre später sind die wirtschaftlichen und infrastrukturellen Vorteile zwar ersichtlich, doch leidet Zürich unter den Schattenseiten dieser Entwicklung. Fast ein Drittel der Bevölkerung sind Ausländer, die auf der Suche nach Arbeit zugezogen sind. Die Angst vor Überfremdung steigt, es herrscht Wohnungsnot, immer mehr Menschen verarmen, Angst vor Krankheiten greift um sich. Zürich verändert sich gefühlt fast täglich. Während in Sihlfeld, Affoltern oder Wipkingen ganze Quartiere mit Mietskasernen errichtet werden, entstehen rund um die Altstadt prunkvolle Neubauten. Das Grossbürgertum hat sich derweil am See niedergelassen – und am Zürichberg.

Bildlegende:
Oben rechts: Die Kinder aus erster Ehe: Theodor Julius wird dereinst die Chronometrie weiterführen. 
Unten links: Adelrich Beyer gehört zu den frühesten Autobesitzern der Schweiz. 

Hier, an der Krähbühlstrasse 57, lebt Adelrich Beyer (1858–1915) mit seiner zweiten Gattin Anna Beyer-Brügger (1864–1944) und den fünf Kindern. Seine erste Ehefrau hat er vor acht Jahren verloren. Marie Valentine Beyer-Meylan (1858– 1892) stirbt mit nur 34 Jahren im Kindsbett. Uhrmacher Adelrich hat die Berufskollegin während seines Volontariats bei Patek Philippe kennengelernt. Sie stammte aus einer bekannten Uhrmacherfamilie. Ihr Grossvater hatte die Meylan-Uhren gefertigt, die zu den feinsten ihrer Zeit gehörten. Marie Valentine war reformiert, Adelrich heiratete sie 1883 trotzdem, worauf die gesamte Familie Beyer aus der katholischen Kirche ausgeschlossen wurde und zum reformierten Glauben übertrat. Dieser Verbindung entsprangen drei Kinder, darunter Theodor Julius Beyer (1887–1952), der die Beyer Chronometrie dereinst in sechster Generation führen wird.

IMMER MEHR MENSCHEN VERARMEN, ANGST GREIFT UM SICH.

 

SCHWIERIGE ZEITEN STEHEN BEVOR
Mit Anna Beyer-Brügger bekommt Adelrich Beyer nochmals zwei Kinder, es herrscht Hochbetrieb in der Villa am Zürichberg. Kürzlich wieder aufgetauchte Fotos dokumentieren, dass man sich auch früh ein schönes Auto leisten kann. Doch oft zu Hause ist Adelrich nicht: Die Chronometrie im «Palais de Crédit Suisse» am Paradeplatz gibt viel zu tun, das gesellschaftliche Leben fordert ihn zusätzlich, und die immer angespanntere Situation in Zürich macht ihm zu schaffen. Ein Krieg scheint unabwendbar. Adelrich weiss, dass das auch Auswirkungen auf das Geschäft und seine Familie haben wird. 1915 stirbt Adelrich Beyer mit 57, ein Jahr nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Diesen übersteht die Beyer Chronometrie verhältnismässig glimpflich. Doch die Weltwirtschaftskrise trifft sie mit voller Wucht: Als eine der Konsequenzen muss die Familie 1934 ihre Villa an der Krähbühlstrasse verkaufen und in eine bescheidene Wohnung im Kreis 3 umziehen.

Veränderung liegt in der Luft:
Anna und Adelrich Beyer mit ihren Kindern und deren Lebensgefährten um das Jahr 1910.

Beyer Chronometrie