Es herrscht Aufbruchstimmung in der Stadt, sie hat sich vom Ersten Weltkrieg erholt und auch von der Wirtschaftskrise. In den letzten zwei Jahren wurde wieder häufiger geheiratet – ein Indiz für die Zuversicht in der Bevölkerung. Es knistert zwar gehörig zwischen dem «roten» Zürich und dem konservativen Kanton, aber es geht vorwärts: Das Krankenkassenobligatorium kommt durch, auch für den sozialen Wohnungsbau und die Arbeitslosenversicherung sieht es gut aus.
Wir stellen uns vor, wie Emilie Beyer-Mathys aus der engen, dunklen und vom Boden bis unter die hohen Decken mit Uhren behängten Chronometrie im «Palais de Credit Suisse» auf die Bahnhofstrasse tritt. Sie überquert die Bärengasse und erlaubt sich vor dem neuen Orell-Füssli-Hof ein Schmunzeln. Die Ausbauarbeiten sind im Gang, bald wird die Chronometrie die modernen Räumlichkeiten beziehen. Sie kann es kaum erwarten.
PRÄGEND FÜR DAS QUARTIER
Emilie Beyer ist 27-jährig und erinnert sich gut an die Villa Grabenhof, die bis vor drei Jahren hier stand: Es war das letzte Haus mit Garten an der Bahnhofstrasse. Die stuckverzierten Salons und vor allem das üppige Boudoir hatten zu allerlei Gesellschaftsklatsch Anlass gegeben. An ihrer Stelle thront nun das neoklassizistische Geschäftshaus mit seinen grosszügigen Treppenhäusern, den Paternoster-Liften und einer bemerkenswerten, 300 Quadratmeter grossen Autogarage: Der Komplex wird sich als prägend erweisen für das Quartier rund um den Paradeplatz.
Vielleicht spaziert Emilie Beyer weiter bis zur Fraumünster- Post, wo sich ihre Laune verschlechtert: Die Wartezeiten hier sind gefürchtet. Zum Glück haben die Bauarbeiten für das Postzentrum neben dem Hauptbahnhof begonnen. Auf dem Rückweg zur Chronometrie schaut sich Emilie Beyer die Auslagen im Bally-Haus an, es wurde eben fertiggestellt. So wie der Bahnhof Enge und der erste Tunnel unter der Sihl hindurch. Dank ihm wurde nicht nur das Reisen einfacher, auch der Verkehr durch die Stadt entspannte sich deutlich, hatte es doch bisher zwischen Wollishofen und Hauptbahnhof zwölf Bahnübergänge gegeben, die täglich während 91 Minuten geschlossen waren.
Emilie Beyer geht zurück in das enge, dunkle Lokal im «Palais de Credit Suisse», wo die Familie Beyer genau 50 Jahre lang gewirkt hat. Trotz ihrer kleinen Kinder hält sie den Betrieb aufrecht, wenn ihr Mann, Theodor Julius Beyer, als Präsident des Uhrmacherverbands und des Zürcher Motorradclubs unterwegs ist oder als Gasttrompeter von Jazzorchestern in Zermatt auftritt. Sie schaut aus dem Fenster und sieht eines dieser faszinierenden Autos vorbeifahren. Noch ahnt sie nicht, dass sie eine der ersten Zürcherinnen sein wird, die bald schon selbst am Steuer eines Autos sitzt.
Noch weniger kann sie sich vorstellen, dass die Aufbruchstimmung in Zürich nur von kurzer Dauer sein wird: Die Weltwirtschaftskrise wird 1929 auch die Schweiz treffen, und die Beyer Chronometrie wird nur überleben, weil Emilie Beyer zu unkonventionellen Mitteln greift. Davon ein andermal.
DAS WAR 1927: VON LINDBERGH BIS OT TO STICH
Bild 1:
Charles Lindbergh gelingt als erstem Menschen die Atlantiküberquerung ohne Zwischenlandung. Die britische Armee schafft die Lanze als offizielle Gefechtswaffe ab.
Bild2:
Georges Lemaître präsentiert seine These vom Beginn des Universums (Urknalltheorie). Die Bildübertragung einer Dollarnote markiert die Geburt des Fernsehens.
Bild 3:
Erstmals können Klänge gespeichert werden: Das Tonband wird erfunden. Die erste Mille Miglia findet statt, der Nürburgring wird eingeweiht. Es ist das Geburtsjahr von Bundesrat Otto Stich, Oscar-Gewinner Arthur Cohn, Volksschauspieler Paul Bühlmann, Pfarrer Ernst Sieber, Bankier Hans J. Bär.