Damals, 1946...

Winston Churchill hebt im Münsterhof die Hand zum Victory-Gruss. Und Theodor Julius Beyer (1887–1952) zieht ein Horoskop zurate.

Bildlegende oben: Steigt 1911 als 24-Jähriger ins väterliche Geschäft ein: Theodor Julius Beyer.

Der Münsterhof platzt aus allen Nähten, selbst auf den umliegenden Dächern sitzen Menschen. Die Kinder haben schulfrei und schwenken Fähnchen, die Erwachsenen überhäufen die offenen Limousinen des Triumphzugs mit Rosen. Am Vormittag des 19. September elektrisiert der britische Kriegspremier Winston Churchill Zehntausende von Zürcherinnen und Zürchern als Hoffnungsträger, nachdem er an der Universität seine berühmte Rede für den Frieden gehalten hat. Der Krieg ist zwar seit einem Jahr vorbei. Doch obwohl sich zaghaft neue Strukturen bilden und verhaltene Aufbruchstimmung keimt: Noch dominieren Angst, Armut und der Schrecken der düsteren Jahre. Das Misstrauen gegenüber der Zukunft ist gross.

Alle wollen sie ihn sehen: Der Münsterplatz im Bann von Winston Churchill.

TÜFTLER UND DRAUFGÄNGER 

In der Menschenmenge auf dem Münsterhof steht auch Theodor Julius Beyer. Der Patron der Beyer Chronometrie ist ein mutiger Mann, ja ein wahrer Draufgänger. Früher hat er geboxt, ist Motorradrennen gefahren und auch sonst vor nichts zurückgeschreckt. Er ist ein innovativer Tüftler, gilt als Erfinder der automatisch ausgelösten Zeitmessung für Bergrennen und eines für Rolex entwickelten Vakuumapparats zur Prüfung der Wasserdichte. Auch als Präsident des Zürcher Uhrenverbands hat er von sich reden gemacht. Vor allem, als er in den Krisenjahren Uhren mit Preisnachlässen von bis zu 50 Prozent verkaufte, damit den eigenen Verband verärgerte und ihn zu Inseraten provozierte, die vor solchen Geschäften warnten. Theodor Julius Beyer ist in der Limmatstadt eine prägende Figur. 

Doch selbst der Optimismus dieses Machers hat Grenzen. Der 59-Jährige zweifelt an der Zukunft der Chronometrie, die er in sechster Generation führt. Das Vermögen ist weg, die Villa am Zürichberg verkauft (siehe beyond Nr. 39). Das Geschäft gibt es nur noch, weil sich Vermieterin und Banken nachsichtig zeigen und langjährige Partner wie Rolex und Patek Philippe eingesprungen sind. Wie lange kann das noch gut gehen? 

In Zeiten der Unsicherheit neigt der Mensch dazu, bei höheren Mächten Rat zu suchen, denn unser Hirn kann Zufälliges nur schwer akzeptieren und zieht, um Ordnung zu schaffen, jegliche Form von Erklärung dem Chaos vor. Darum tut Theodor Julius Beyer, was er in seinem Leben schon mehrmals getan hat: Er lässt sich ein ausführliches Horoskop erstellen, diesmal beim Astrologen A. Keller in Genf.

Obwohl enorm umtriebig und in zahlreichen Organisationen engagiert, ist Theodor Julius
Beyer überzeugter Familienmensch.
Brust raus, Bauch rein: Theodor Julius (unten links) in jungen Jahren als Boxer.

AUSDRÜCKLICHE WARNUNG

 Es ist zwölf Seiten lang und bescheidet dem Widder (Aszendent Skorpion) schon in den ersten Abschnitten: «Diese Konstellationen geben Ihnen einen festen Willen, einen beweglichen, mitunter etwas träumerischen Geist, auch grosses häusliches Interesse. Oft sind Sie misstrauisch, mitunter zeigen Sie in Ihren Ansichten einen etwas zu starken Eigensinn.» Im Gegensatz zu früheren Horoskopen, die sogar Zahlen für die Lotterie prognostizierten, bleibt das Schreiben von 1946 aber oft vage. 

Womöglich hat sich Theodor Julius Beyer mehr erhofft und die ausdrückliche Warnung am Ende enttäuscht überlesen. Dort steht: «Es geht besonders darum, sich selbst zu Ruhe, Überlegung, Zurückhaltung zu zwingen und Exzesse zu meiden.» Beyer tut in den nächsten Jahren das genaue Gegenteil und verbringt viel Zeit in Zermatt, um in Jazzkapellen die Trompete zu blasen und gut betuchte Gäste von schönen Uhren zu überzeugen, irgendwie muss das Geschäft ja überleben. 

Mit 65 Jahren stirbt er «nach sechswöchigem Krankenlager» und erlebt nicht, wie doch noch alles gut kommt: Unter Sohn Theodor R. Beyer erblüht die Beyer Chronometrie zu einer wahren Legende, die sich weit über die Schweizer Grenzen hinaus einen Namen macht.

Rät vergeblich zu Ruhe und Zurückhaltung:
Horoskop von 1946.

Beyer Chronometrie