Jede Uhrenmarke hat ein Qualitätsmerkmal, das sie unverwechselbar macht, einzigartig. Das kann eine besondere Funktion sein oder ein wiedererkennbares Designmerkmal. Bei der Uhrenmanufaktur Gebrüder Wilde aus Villingen in Süddeutschland, gegründet 1872 und 1916 liquidiert, bestand diese «unique selling proposition» aus einem Kalendermodul, das bei ihren Wandregulatoren Tag, Datum und Monat in einem Fenster unter dem Zifferblatt anzeigt.
Ein solches Merkmal kann allerdings zum Bumerang werden, wenn es technisch nicht ausgereift ist und konstant für Probleme sorgt. Unter solchen litt auch die patentierte Erfindung von Constantin und Leopold Wilde. Für Sammler und Fans alter Uhren sind solche Uhren trotzdem ein Leckerbissen: Sie sind nicht nur technisch interessant, sondern ausgesprochen rar – und darum gesucht.
Just eine solche Uhr hat dank der Schenkung einer Beyer-Kundin den Weg in die Uhrensammlung Beyer gefunden. Bevor sie jedoch ausgestellt werden kann, soll das Prunkstück gereinigt, restauriert und in einen funktionierenden Zustand versetzt werden. «Ein solches Kalendermodul hatte ich zuvor noch nie gesehen», sagt Tobias Burtscher, Leiter des Grossuhren-Ateliers von Beyer. «Zum Glück vermittelte mir René Rietmann, dessen Uhrenatelier in Zollikon wir letztes Jahr übernehmen durften, jemanden, der sich auf dieses Erzeugnis spezialisiert hat.»
Nun stehen wir in ebendieser Beyer- Werkstatt in Zollikon, und Burtscher lässt uns auf den Mechanismus blicken, der sich hinter der Tür des im Renaissance-Stil gehaltenen Holzgehäuses verbirgt. Der Uhrmacher hat das Innere noch nicht angerührt, denn den Ausbau möchte er gemeinsam mit dem Spezialisten angehen. Es klingelt an der Tür: Rudolf Bucheli ist da. Er hat einen Ordner mit Dokumenten über die Uhr sowie Spezialwerkzeug mitgebracht, darunter eine selbst gebaute Vorrichtung zur Fixierung des Kalendermoduls, das grösser und schwerer ist als das eigentliche Uhrwerk.
Rudolf Bucheli schaut sich die Uhr kurz an und schreitet sogleich zur Tat. Gemeinsam mit Tobias Burtscher baut er das Uhrwerk samt Modul aus. Burtscher meint schmunzelnd: «Oft wünschen wir Uhrmacher uns mehr als zwei Hände: Tatsächlich geht es mit vieren ruck, zuck.» Bucheli zeigt auf eine Rolle, auf der ein Seidenband mit Ziffern aufgewickelt ist: «Das ist das Besondere an dieser Uhr – aber auch das Sorgenkind und verantwortlich dafür, dass diesem System keine Zukunft beschieden war.»
Während die Wochentage und die Monate auf mehrflächigen, schrittweise rotierenden Walzen aufgedruckt sind, befinden sich die Ziffern fürs Datum auf dem Seidenband, das, wie bei einer Tonbandmaschine, von einer Spule abgerollt und auf einer zweiten aufgewickelt wird. «Mit dieser Umsetzung brockten sich die Gebrüder Wilde mehr Probleme ein, als sie lösten», sagt Bucheli. «Das grösste davon ist das Material selbst: Seide ist ein Naturprodukt, das empfindlich auf Licht und mechanische Belastung reagiert. Seine Eigenschaften verändern sich mit der Zeit und sind unberechenbar.»
Dass dem so ist, zeigt sich beim schrittweisen Zerlegen des Mechanismus: An der Stelle, an der das Seidenband durch einen Schlitz ins Innere der Trommel geführt wird, die es aufwickelt, ist es bereits angerissen. Soll die Uhr später das Datum wieder anzeigen, braucht es einen Ersatz. Schön sieht das Band aus wie es in der Frühlingssonne schimmernd auf dem Werktisch liegt. Aber weshalb sind die Abstände zwischen den Zahlen nicht gleichmässig?
Vielleicht erinnern Sie sich: Bei einem Fotoapparat für Kleinbildfilm sorgt eine verzahnte Rolle im Zusammenspiel mit dem gleichmässig an den Rändern perforierten Film dafür, dass dieser nach jedem Bild konstant um etwas mehr als eine Bildbreite weiterbewegt wird. Nicht so bei der Kalenderuhr der Gebrüder Wilde: Hier ist es die aufwickelnde Spule, die sich bei jedem Datumwechsel weiterdreht und damit das Seidenband transportiert. Da ihr Durchmesser zunimmt, je mehr Seidenband sie trägt, bewegt sie jeden Tag etwas mehr Seidenband. Damit die Zahlen mittig im Datumsfenster zu stehen kommen, müssen die Abstände folglich zunehmen. «Ich erstellte etliche Excel-Files, um für die vielen Bandmaterialien, die ich ausprobierte, die korrekten Abstände der Zahlen zu ermitteln», seufzt Bucheli. «Und wenn ich glaubte, eine Formel gefunden zu haben, stellte sich in der Praxis heraus, dass ich doch irgendeinen Faktor nicht berücksichtigt hatte.»
DIE PERFORIERUNG RISS AUS ODER BLIEB HÄNGEN:
DAS SEIDENBAND BEKAM LAUFMASCHEN.
Auch die Firma Wilde hatte offenbar mit diesem Problem zu kämpfen und versah ihre Kalenderwerke mit einer Walze, die am Rand über kurze Metallstifte verfügte. Diese sollten in das Seidengewebe eindringen und so für einen gleichmässigeren Vortrieb sorgen. Doch aus dieser Massnahme erwuchsen neue Probleme: Die Perforierung des Seidenbands verwandelte sich mit der Zeit zu Langlöchern, riss aus oder blieb beim Zurückspulen am Monatsende an den Stiften hängen. Kurz: Das Seidenband bekam Laufmaschen.
Doch Tobias Burtscher und Rudolf Bucheli lassen sich von solchen Herausforderungen nicht ins Bockshorn jagen. Zunächst reinigen sie die Komponenten im Ultraschallbad, dannn überprüfen sie jedes Einzelteil auf seine Funktionstüchtigkeit. Schliesslich bauen sie das Kalenderwerk zusammen.
Bucheli hat einen selbst entwickelten Ersatz für das zerstörte Seidenband dabei. Nach jahrelangen Versuchen hat er ein Material gefunden, das bei gleicher Flexibilität keinen der Nachteile des Seidenbands aufweist und sich maschinell bedrucken lässt.
Wenn Sie diese Zeilen lesen, wird der Regulator wieder in seinem verschnörkelten Holzgehäuse ticken und vielleicht bereits im Uhrenmuseum Beyer zu bewundern sein. Den Moment allerdings, wenn der Kalender aktiv wird und sich das Band mit dem Datum bewegt, werden Sie kaum zu Gesicht bekommen. Denn der vollzieht sich stets um Mitternacht.
Das Uhrenatelier Beyer ist das grösste Atelier eines Uhrenhändlers in Zürich.
Über dem Geschäft an der Bahnhofstrasse 31 und im Grossuhrenatelier in Zollikon beschäftigt Beyer zehn Uhrmacher und zwei Uhrmacherlernende.
WAS IST EIN REGULATOR?
Ursprünglich bezeichnete der Regulator eine hochpräzise, in einem Gehäuse ruhende Pendeluhr, die als Zeitnormal für weniger genaue Uhren diente, zum Beispiel für Taschenuhren. Regulatoren standen in Uhrmacherwerkstätten, aber auch als Mutteruhren in öffentlichen Gebäuden. Da sie oft ein spezielles Zifferblatt mit grosser Minute, kleiner Stunde und kleiner Sekunde besassen, erhielt dieses Layout die Bezeichnung Regulator-Zifferblatt. Inzwischen wird der Begriff Regulator oft auch für andere Wanduhren mit Pendel und Gehäuse verwendet.