DER UHRENHISTORIKER
Pierre-Yves Donzé (1973) ist Professor für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Osaka und Gastdozent an der Universität Freiburg.
Sein Spezialgebiet ist die Industriegeschichte mit Schwerpunkt Schweizer Uhrenindustrie.
Herr Donzé, Sie sahen sich gerade im Uhrenmuseum Beyer um. Haben Sie eine besondere Entdeckung gemacht?
Aus Sicht des Historikers geht es nicht um ein besonderes Stück, sondern um die gesamte Sammlung. Und diese hier ist überragend. Denn sie schafft es, auf wenig Raum die Geschichte der Zeitmessung zu erzählen, von den Anfängen bis heute.
Warum hat sich die Uhr als Zeitmesser durchgesetzt? Die Zeit als eine in Stunden und Minuten unterteilte Einheit spielte ja lange keine Rolle.
Tatsächlich war eine solche Unterteilung lange zweitrangig. Mit der Definition von Tagen, Jahreszeiten und religiösen Festen sicherte sich die Kirche aber die Kontrolle über die Gesellschaft. Ein Symbol dieser Macht war die Turmuhr, die die Zeit vorgab. Bis im Mittelalter die Bourgeoisie damit begann, Uhren etwa in Rathäusern einzubauen und sich mit der Kontrolle über die Zeit ein Stück Macht sicherte.
Die Uhr wurde dank ihrer Machtsymbolik zum Must-have?
Im 18. Jahrhundert entwickelte sich ein gewisser Wohlstand, vor allem in Grossbritannien, und daraus eine Konsumgesellschaft. Man leistete sich schöne Dinge, auch Uhren. Das bedeutet nicht, dass man sie nutzte, um das tägliche Leben zu organisieren. Die Uhr war mehr ein Accessoire. Als Zeitmesser wurde sie erst im 19. Jahrhundert wichtig, mit der Modernisierung, vor allem dank der Eisenbahn.
Wie kam es, dass nicht England, sondern die Schweiz zum Inbegriff bester Uhren wurde?
Wir wissen nicht genau, wie die Uhrmacherei in der Schweiz begann. Aber ich denke, zwei Faktoren waren wichtig. Erstens die Auswirkung der Reformation im 16. Jahrhundert respektive das Verbot, Schmuck herzustellen. Die Juweliere mussten sich etwas überlegen. Sie wussten, wie man Silber, Gold und Edelsteine verarbeitet, und begannen, Uhren zu dekorieren und zu produzieren. Der zweite Punkt ist die Einwanderung im 16. und 17. Jahrhundert, insbesondere aus Norditalien und Frankreich. Viele brachten das Wissen um die Uhrmacherei mit, das sich von Genf aus im Jurabogen verbreitete. Gleichzeitig zogen Handwerker aus den Dörfern nach Paris, um den boomenden
Uhrmacherberuf zu erlernen, und brachten das Wissen heim.

Im 18. Jahrhundert werden tragbare Uhren in Grossbritannien zum Statussymbol, die
Zeitmessung ist allerdings noch sekundär: Silberne Taschenuhr von John Baptist Bushman aus London.
Die filigranen Einzelteile einer Uhr wurden schon damals nicht in Städten hergestellt, sondern auf dem Land. Warum?
Weil da die Arbeitskräfte günstiger waren. Ein Bauer konnte seine Arbeit verrichten und nebenbei mit der Fertigung von Uhrenteilen dazuverdienen. Das geschah nicht etwa nur in langen Wintern, wie oft erzählt wird. Es gab viel mehr eine Arbeitsteilung innerhalb der Familie. Auch die Händler waren noch keine Uhrenspezialisten, dafür war der Markt zu klein. Viele verkauften alles Mögliche: Kolonialwaren wie Kaffee, Tee und Gewürze, Textilien und auch Zeitmesser. So wie die Vorfahren der Familie Beyer in Feuerthalen.
Wie wichtig waren die Weltausstellungen für die Schweizer Uhrenindustrie?
Ihnen kommt eine grosse Bedeutung zu. An der ersten Weltausstellung, in London 1851, zeigten die Schweizer ihre grösste Fähigkeit: dass sie Uhren in einer beeindruckenden Vielfalt herstellen konnten, in jeder Grösse, in jeder Form, aus jedem Material, zu jedem Preis. Entscheidend aber war Philadelphia 1876: In jener Zeit übertrafen die Amerikaner die Schweizer dank der Massenproduktion qualitativ guter Uhren. Also gingen die Schweizer nach Philadelphia und beobachteten die Amerikaner, um von ihnen zu lernen. An die Weltausstellung 1893 in Chicago kamen sie gestärkt zurück. Sorgfältig hatten sie die besten Uhrmacher ausgewählt und präsentierten vor allem hochwertige Uhren. Das Ziel war, ein luxuriöses Image zu schaffen. Das funktionierte bestens.
Lange dominierten Taschenuhren. Warum setzte sich die Armbanduhr durch?
Als man Ende des 19. Jahrhunderts auf die Idee kam, Armbanduhren herzustellen, war das eine Nischeninnovation von geringer Wichtigkeit. Das änderte sich mit dem Ersten Weltkrieg. Soldaten trugen über dem Ärmel eine Armbanduhr zur Bestimmung von Distanzen. Und das Marketing entdeckte die Armbanduhr als Accessoire für Damen: In den 1920er- und 1930er-Jahren warben Inserate jeweils mit einer Taschenuhr für Männer und einer Armbanduhr für Frauen.
Kam der Erfolg der Armbanduhr über Nacht?
Es war ein schrittweiser Wandel, der rund zwanzig Jahre dauerte. 1940 gab es praktisch keine Taschenuhren mehr, nur noch Armbanduhren. Unternehmer wie Rolex- Gründer Hans Wilsdorf hatten den Zeitgeist schnell erkannt. Im Gegensatz dazu war Patek Philippe damals eher konservativ und hielt lange an der Produktion hochwertiger Taschenuhren fest. Dies führte zu Schwierigkeiten in den 1930er-Jahren und schliesslich zur Übernahme der Firma durch die Familie Stern.
Auch Krisen gehören zur Geschichte der Schweizer Uhrenindustrie. Welche waren die bedeutendsten – und wie kam man aus ihnen heraus?
Kurzfristige Krisen wie wirtschaftliche Rezessionen, welche die Nachfrage nach Uhren verringern und zu ein- oder zweijährigen Einbrüchen führen, gab und gibt es immer wieder. Gefährlicher sind strukturelle Krisen, die die Existenz der ganzen Branche betreffen. Eine erste solche trat in den 1870er-Jahren auf, als die Amerikaner die Massenproduktion günstiger Qualitätsuhren einführten. Die Schweiz reagierte mit der Modernisierung ihrer Produktion. Die zweite strukturelle Krise ereignete sich in den Zwischenkriegsjahren, den 1920er- und 1930er-Jahren, als die Produktion aufgrund des zunehmenden Protektionismus in andere Länder verlagert wurde. Die Schweiz reagierte, indem sie alles daransetzte, Arbeitsplätze und Wissen im Land zu halten. Das führte zu einer stärkeren Konzentration der Industrie.
Die Quarzkrise – oder eher der Quarzschock – fand zwischen 1975 und 1985 statt. Sie war keine rein technologische Herausforderung. Vielmehr ging es darum, die Struktur der Schweizer Uhrenindustrie an den globalen Wettbewerb anzupassen. Wichtigster Konkurrent war Japan mit einer hoch konzentrierten Industrie mit wenigen Unternehmen wie Seiko und Citizen, die massenproduzierte Uhren in hoher Qualität zu niedrigen Preisen fertigte. Die Schweizer Industrie stand seit den frühen 1970er- Jahren unter Druck, als das Bretton-Woods- System mit festen Wechselkursen endete, der Franken plötzlich stark aufgewertet und Schweizer Uhren im Vergleich zu japanischen massiv teurer wurden.
Obwohl die Schweiz den ersten Quarzprototyp 1967 entwickelt hatte, brachte Seiko 1968 die erste Quarzuhr auf den Markt. Japan nutzte die Technologie, um günstige Uhren herzustellen. Die Schweiz reagierte mit der Reorganisation der Branche, insbesondere durch die Gründung der Swatch Group. Das führte zu einer Konsolidierung der Produktionsstätten, einer Vereinfachung der Produktpalette dank ETAWerken und der Verlagerung von Teilen der Produktion nach Asien. Gleichzeitig konzentrierte man sich darauf, die Vielfalt und das traditionelle Handwerk als zentrale Werte zu bewahren.

Der Erste Weltkrieg ebnet den Weg für Armbanduhren,
das Marketing entdeckt sie als Accessoire für Damen: Uhr von Patek
Philippe im Art-déco-Stil mit diamantbesetzter Lünette und Band aus Rips.
Wie wichtig war – und ist – das Label «Swiss made»?
Es spielte eine entscheidende Rolle, besonders in den Achtzigern, als die Schweizer Uhrenindustrie eine Renaissance erlebte. Die «Swiss made»-Regelung war 1971 eingeführt worden, um die Qualität zu sichern und trotzdem kostengünstig produzieren zu können: Mindestens 50 Prozent des Werts eines Uhrwerks mussten in der Schweiz geschaffen werden. Während der Quarzkrise verlor das Label an Relevanz, da Präzision keine Frage des Herstellungsorts mehr war. In den Achtzigern mit der Rückbesinnung auf mechanische Luxusuhren wurde «Swiss made» zu einem wichtigen Marketinginstrument. Es steht für Tradition und Qualität.

Die Schweiz hat dazugelernt: Seit der Weltausstellung in Chicago
pflegt sie für ihre Uhren ein luxuriöses Image – mit Erfolg: Taschenuhr von
Patek Philippe mit springender Stunde im kleinen Fenster.
Welche Bedeutung für die Uhrenindustrie haben die Händler?
Das Wichtigste ist immer noch, eine Uhr verkaufen zu können. Die Herstellung ist nicht mehr so schwierig. Jedes Jahr gibt es Start-ups, die mit ausgezeichneten Produkten kommen, aber schnell wieder verschwinden, weil sie keinen Markt finden. Gute Händler kennen die Bedürfnisse ihre Kundschaft und geniessen deren Vertrauen. Das ist wichtig, denn beim Kauf einer Uhr geht es um das gesamte Erlebnis. Kunden schätzen es, in ein Geschäft zu gehen, mit Verkäufern zu sprechen, Emotionen zu erleben. Dieser Prozess ist Teil der Vorfreude auf eine Uhr, besonders bei teuren Modellen. Der Online-Kauf bietet diese Erfahrung nicht in gleicher Weise. In der Luxusuhrenbranche
bleiben gute lokale Händler relevant.
Wie erklären Sie sich die Faszination für mechanische Uhren?
Was ich an mechanischen Uhren mag, ist nicht nur die Technologie. Mich fasziniert auch die Schönheit und die Art, wie sie in ein Gesamtkonzept eingebettet ist. Wenn ein ästhetisch ansprechendes, technisch aussergewöhnliches Produkt und eine gute Geschichte harmonieren, kann eine starke emotionale Bindung entstehen.

Die neue Präzision von Quarzwerken beflügelt Omega zu einer verwegenen Namensgebung:
Die Bezeichnung «Marine-Chronometer» stand bislang für eher klobige Navigationsinstrumente auf Schiffen.
WELTBERÜHMTE SAMMLUNG
Das Uhrenmuseum Beyer birgt eine der bedeutendsten Sammlungen der Welt.
Es ist Montag bis Freitag von 14 bis 18 Uhr geöffnet.