
Man hätte vielleicht brennende Mülltonnen auf der Strasse erwartet, dröhnenden Rap und ins Gesicht gezogene Hoodies. Stattdessen: Beschaulichkeit, saubere Strassen, eine Kirche und landschaftliche Weiten, wie man sie im rund eine Autostunde entfernten New York City höchstens im Imax-Kino zu Gesicht bekommt. Wir befinden uns in Port Chester an der Grenze zum Bundesstaat Connecticut. Ausgerechnet hier soll eines der bekanntesten Tattoo-Studios der Welt für Furore sorgen?
Nun, Tattoo-Studio ist natürlich ein weiter Begriff. Im Sang Bleu jedenfalls kann niemand einfach hereinschlurfen und sich spontan einen Anker auf den Oberarm tätowieren lassen. Einen Termin mit dem Künstler bucht man bis zu einem Jahr im Voraus. Denn das Sang Bleu ist das Reich von Maxime Plescia-Büchi, seines Zeichens Designer, Tattoo Artist, Mitinhaber, eigentlich müsste man sagen: Tausendsassa, aber der Begriff wäre dem 46-jährigen Schweizer aus Lausanne mit Sicherheit nicht recht. Zu schwammig.
An diesem Tag, den wir mit ihm verbringen, wird sich herausstellen, dass Maxime ein Suchender ist, ein Getriebener, ein Intellektueller in einer Szene voller Poser. Einziger Hinweis in Port Chester auf den Mann, der mit Sang Bleu einen Indie-Brand geschaffen hat, der seinesgleichen sucht: der folierte schwarze Mercedes S-Klasse, Spezialanfertigung. Ein Batmobil in einem Meer von Familien-SUVs.
Schüchtern (oder vielleicht einfach nur etwas verschlafen) begrüsst uns Maxime Plescia-Büchi um acht Uhr morgens auf Französisch. Sein Studio mutet eher an wie ein hippes New-Work-Büro, minimalistisch, klar, durchgestylt. Kunst von Claudia Comte, Sitzgelegenheiten von Knoll. Nur im hinteren Zimmer weisen ein Ringlicht, Desinfektionsmittel und eine Liege darauf hin, dass hier Kunstwerke für immer unter die Haut gehen. Plescia-Büchi gründete das Label Sang Bleu 2006 als Designstudio: Daraus ging unter anderem ein stilprägendes Magazin hervor, Streetwear- Kollektionen, Logo-Designs für Modemarken – und seine richtungsweisende Tattoo-Kunst mit Studios in Zürich, London, New York und Los Angeles.

Maxime über das Leben in der Vorstadt: «Wir haben diesen Ort gewählt, weil die Schulen gut sind.»

UHRENFAN SEIT SEINER KINDHEIT
Es ist aber nicht Maximes einziges Unternehmen: Mit Swiss Typefaces ist er Geschäftsführer des erfolgreichen Gestaltungsstudios, das zuletzt die Schriften für den neuen Schweizer Pass designt hat und für Google Android, Virgin Galactic oder die Stadt Stockholm tätig war. 2016 designte Plescia-Büchi zum ersten Mal eine Uhr für Hublot. «Eine grosse Sache», wie er sagt. Inzwischen gibt es drei Editionen mit Dutzenden Variationen der «Sang Bleu»-Modelle, die auf der legendären Hublot «Big Bang» aufbauen.
Maxime bietet Kaffee an, setzt sich, und als er über Uhren zu sprechen beginnt, ändert sich sein Gesichtsausdruck – hier spricht ein Kenner, ein Bewunderer der Branche und gewissermassen ein nerdiger Eingeweihter: «Ich wuchs in Lausanne auf, verbrachte aber einen Grossteil meiner Kindheit im Jura, der Heimat meiner Mutter – die Uhrenindustrie war omnipräsent.
ER IST EIN
INTELLEKTUELLER
IN EINER SZENE
VOLLER POSER.
Ich kannte viele Familien, die voller Stolz in der Branche arbeiteten. Oft konnten sie sich die Uhren, denen sie Tag für Tag ihre ganze Leidenschaft widmeten, selber nicht leisten. Doch alle respektierten die Branche », sagt er und wirft einen Blick auf sein eigenes Design. Ohne eine seiner Hublots geht er nicht aus dem Haus. «Viele Leute ausserhalb der Schweiz haben wenig Verständnis für das Wesen einer guten Uhr. Hier in den Staaten erkläre ich dann immer, dass die Uhrenindustrie für die Schweiz so wichtig ist wie die Autobranche für Detroit. Die Uhr ist ein Luxusprodukt, klar, aber die Menschen, die sie herstellen, gehören zur Arbeiterklasse.»
Zu dieser gehört Plescia-Büchi definitiv nicht, er hat mit seinen Visionen viel erreicht, ein Tattoo von ihm ist eine Investition. Das Geld brauche er auch, sagt er. Schliesslich übe er einen Beruf mit wenig Sicherheiten aus und müsse vier Kinder ernähren. Seine amerikanische Frau Hope und er haben keine Grosseltern in der Nähe, keine Nannys, keine Hilfe. Das jüngste Kind ist zwei Jahre alt, die Zwillinge sieben und die älteste Tochter neun. Natürlich wollen wir wissen, ob Fake- Tattoos für Kinder bei den Plescia-Büchis erlaubt sind. Maxime grinst über die Banalität unserer Frage, nickt kurz, aber möchte offensichtlich lieber über Tiefgründigeres sprechen.


DER SINN VON UHREN
Zum Beispiel über den Sinn von Uhren: «Ich mag es nicht, wenn Leute sagen, dass es keine Uhren mehr braucht, nur weil wir Handys haben. Sicher: Vom ursprünglichen Zweck der Uhr sind wir befreit. Aber wir brauchen sie auf andere Art. Uhren sind Poesie. Mich fasziniert, wie man auf kreative Weise Zeit anzeigen kann. Da ist zum Beispiel die Form. Es gibt eine ganze Generation von Menschen, deren erste Uhr eine rechteckige Smartwatch ist. Was bedeutet das für die traditionell runde Form des Zifferblatts?» Es sind solche Fragen, die den Gestalter umtreiben.
Wir werden heute einige Orte besuchen, die wichtige Stationen darstellen im Leben von Maxime Plescia-Büchi. Im Auto in Richtung Meatpacking District läuft doch ein bisschen Rap, alles andere hätte uns wohl irritiert. Maxime erzählt aus seinem Leben. 2006 hat er die Schweiz verlassen. Nach Stationen in Paris, London, New York und Los Angeles fand er mit seiner jungen Familie ein Zuhause an der Grenze zu Connecticut. Und es ist irgendwie herzerwärmend, wie dieser scheinbar toughe, von der Szene vergötterte Typ den trivialen Grund für den Umzug in die Vorstadt nennt: «Wir haben diesen Ort gewählt, weil die Schulen gut sind. Wenn ich meine Kinder abhole, bin ich definitiv der einzige tätowierte Vater.»
Und ja, sein Leben als Vater habe seine Art zu arbeiten sehr wohl beeinflusst. «Ich musste mich neu organisieren und lernen, weniger zu tätowieren, um daheim für meine Familie noch emotional verfügbar zu sein. Ich gebe bei meiner Arbeit sehr viel von mir. Der Job bewegt sich irgendwo zwischen Psychologie, Kunst und Sexarbeit, ein intimer Akt. Es kann ganz schön an einem zehren, wenn man ihn nicht sorgfältig angeht.» Wir halten an der Kreuzung von Broadway und 72nd Street.

GREENPOINT:
Wo alles begann: Hier bekam Maxime seinen
ersten Job in New York im Tattoo-Studio East River. Es ist mittlerweile umgezogen,
aber in Greenpoint kommt man als Hipster noch
immer auf seine Kosten: Es gibt Vintage-Boutiquen, Galerien, Plattenläden und polnische Feinkost.
Wo alles begann: Hier bekam Maxime seinen
ersten Job in New York im Tattoo-Studio East River. Es ist mittlerweile umgezogen,
aber in Greenpoint kommt man als Hipster noch
immer auf seine Kosten: Es gibt Vintage-Boutiquen, Galerien, Plattenläden und polnische Feinkost.

WILLIAMSBURG:
Das angesagte Viertel gibt sich ebenso cool wie modebewusst. In Maximes ehemaligem Studio Rose Tattoo gibt es bei Homerun NYC limitierte
Streetwear von ikonischen Graffiti-Künstlern. Vielleicht auch bald eine Sang-Bleu-Kollektion?
Das angesagte Viertel gibt sich ebenso cool wie modebewusst. In Maximes ehemaligem Studio Rose Tattoo gibt es bei Homerun NYC limitierte
Streetwear von ikonischen Graffiti-Künstlern. Vielleicht auch bald eine Sang-Bleu-Kollektion?
RUHM UND POPKULTUR
«Hier habe ich meine Frau kennengelernt», sagt Maxime, als wir beim Lunch auf Klappstühlen sitzen, und beisst zufrieden in ein vor Fett triefendes Stück New York Pizza. So richtig entspannen kann er sich aber nicht. Es kommt einem vor, als ob dieser Mann nonstop neue Ideen wälzt, seine Inspiriertheit ist ansteckend. Man versteht, dass die Menschen gern um ihn sind. Es gebe viele Leute, die es spannend fänden, einen Künstler in der Nähe zu haben, bestätigt Maxime und rollt die Augen. «Aber ich habe keine Lust, den Künstlerclown zu spielen. Für so etwas geht man besser ans Burning Man Festival.»
Als wir später ins Dumbo-Quartier fahren und Plescia-Büchi versonnen auf die Brooklyn Bridge schaut, reflektiert er über Ruhm und Popkultur. Man weiss, dass er nicht gern auf Kanye West angesprochen wird, obwohl er ihn einst tätowiert hat. «Ich zog mich bewusst aus der Celebrity- Kultur zurück», sagt er. «Als mich Berühmtheiten anzufragen begannen, ging ich in mich und fragte mich: Will ich der ‹Tattoo- Künstler der Stars› sein? Ich kam zum Schluss: nein. Wenn man nicht selbst ein Star ist, sondern sich auf die Stars verlassen muss, ist das eine ungünstige Position, weil man sich abhängig macht. Ich bin jedenfalls ganz froh, dass ich mich nicht auf Kanye verliess», sagt er nicht ohne eine Spur von Spott in der Stimme.
Geduldig schaut Maxime für den Fotografen in die Kamera. Dann sagt er: «Ich mag Menschen, die den Wert von Dingen zu schätzen wissen, materiell oder ideell. Wenn man sich eine tolle Uhr kaufen möchte, denkt man lange darüber nach, man spart dafür, träumt davon, informiert sich. Genauso ist es mit einem Tattoo. Aus der Nummer kommt man nämlich so schnell nicht mehr raus. Ein Tattoo ist eine Erweiterung deines Selbst. Und die richtige Uhr ist das ebenso.»

MEATPACKING DISTRICT
Heute ist es eine der hippsten Gegenden in New York City, doch zwischen Ende des 19. und Mitte des 20. Jahrhunderts fand man hier vor allem Schlachthöfe, Verpackungsbetriebe und Lampenölfabriken. Im Meatpacking District gibt es schicke Designer-Boutiquen, angesagte Cafés, das Whitney Museum und den High Line Park, der auf ausgedienten Eisenbahntrassees errichtet wurde.
UPPER EAST SIDE, BROADWAY & 72ND
Eine wichtige Ecke für Maxime Plescia-Büchi. Hier wohnte er viele Jahre lang in einer WG, wenn er in der Stadt war. Hier lernte er seine Frau Hope kennen, und hier empfiehlt er, sich Zeit für ein Stück Original New York Pizza zu nehmen.


DUMBO, BROOKLYN
In Dumbo flaniert man über das berühmte Kopfsteinpflaster, setzt sich in ein hippes Café und abends in ein Speakeasy. Maxime besucht gern das Dumbo House, Teil der exklusiven Soho-House-Kette. «Der Blick ist der beste in ganz New York, vor allem bei Sonnenuntergang», sagt er. Tatsächlich ist die Aussicht auf Manhattan und die Brooklyn Bridge atemberaubend.

ZEIT FÜR DREI
Es gibt sie in verschiedenen Farben und Materialien: Diese drei Modelle hat Maxime Plescia-Büchi für Hublot entworfen.
1 Sang Bleu Big Bang I
2016 erschien das erste Modell der Zusammenarbeit. Das Design ist inspiriert von geometrischen Formen und verschlungenen Mustern, die häufig in der Tattoo-Kunst zu finden sind. Es sei aber alles andere als eine «Tattoo-Uhr», sagt Plescia-Büchi. «Das wäre viel zu banal. Das einzige, was die Uhr mit Tattoos zu tun hat, ist, dass ich sie designt habe.»
2 Sang Bleu Big Bang II
2019 erschien das Nachfolgemodell. Die «Big Bang Sang Bleu II» verfügt über drei sich separat drehende Polygone, die die Zeit anzeigen. «Mir war wichtig, dass man eine Weiterentwicklung im Design erkennt», sagt Maxime. «Jedes Modell soll trotzdem auch ganz für sich allein stehen.»
3 Sang Bleu Spirit of Big Bang
n seiner dritten Zusammenarbeit mit Hublot widmete sich Plescia-Büchi der Tonneau-Form: «Ich wollte herausfinden, welchen Einfluss die Form von Smartwatches auf die traditionelle Uhrmacherkunst haben kann.» In Anlehnung an die Designcodes der «Big Bang Sang Bleu»-Modelle I und II wandte er bei diesem Modell im 42-mm-Gehäuse seine charakteristische kantige Ästhetik an, um die Architektur der Uhr neu zu definieren. «Die Ergonomie ist ausserdem eine andere, ich trage diese Uhr stundenlang beim Tätowieren, sie muss sich gut anfühlen - das war mir ein Anliegen.»

Ricardo
Guadalupe und
Maxime
Plescia-Büchi
Guadalupe und
Maxime
Plescia-Büchi
"SANG BLEU REGT ZUM SAMMELN AN"
Hublot-Chef Ricardo Guadalupe über die Zusammenarbeit mit Maxime Plescia-Büchi und dessen neueste Kreation.
Hublot pflegt seit acht Jahren eine Partnerschaft mit Sang Bleu: Was macht sie so besonders?
Maximes ikonische Tattoo-Ästhetik und unsere Uhrenphilosophie passen perfekt zusammen. Es ist, als ob sich durch die Fusion die Stärken der beiden Welten nochmals schärfen. Es entsteht eine einzigartige Identität.
Welches «Sang Bleu»-Modell gefällt Ihnen am besten und warum?
Die neue «Spirit of Big Bang Sang Bleu Saphir»! Der Saphir verleiht Maximes Tattoos eine völlig neue geometrische Dimension. Und wir durften zeigen, was wir können, welche technischen Hindernisse wir zu überwinden imstande sind und warum wir in der Haute- Horlogerie als führender Hersteller von Saphirprodukten gelten.
Was bewundern Sie an der Arbeit von Maxime am meisten?
ein Verständnis von Kunst: Sein Stil ist sehr grafisch, geometrisch und strukturiert, extrem präzise und von technischer Raffinesse. Man erkennt starke Parallelen zur Welt der Uhrmacherei, in der jedes Detail zählt.
Die Eroberung neuer Szenen ist Teil der Hublot-DNA: An welche Kundschaft richtet sich die «Sang Bleu»- Kollektion?
Sicher an Kunden, die ihre Authentizität nicht verheimlichen und mit progressivem Geist unterwegs sind. «Sang Bleu»-Uhren sind wahre Kunstwerke, die am Handgelenk getragen werden. Vielleicht regen sie darum in besonderem Masse zum Sammeln an: Ein bisschen so, wie Tattoos es tun.