World of Patek Philippe

Nicholas Foulkes schürft in der Geschichte der bedeutendsten Uhrenmarken der Welt.

NICHOLAS FOULKES Der britische Historiker, Buchautor und Journalist gilt als profundester Kenner von Patek Philippe. Fürs beyond kommentiert er spezielle Epochen und Phänomene.


ALS AUS ZEIT SCHMUCK WURDE

Mit Gilbert Albert begann bei Patek Philippe ein neues Zeitalter. Der Chefdesigner war ebenso umstritten wie genial.

Patek Philippe erfindet sich neu … mit Schmuckstücken»: Die Auslassungspunkte stammen zwar von mir – sie sollen für einen dramatischen Effekt sorgen. Doch die Schlagzeile war 1961 in der französischen Kulturzeitschrift «Connaissance des Arts» zu lesen. Im Zentrum der nicht geringen Aufregung um die Neuerungen in der traditionellen Uhrenmanufaktur stand Gilbert Albert, ein Enfant terrible in Sachen Edelmetalle und Edelsteine, dessen Kreationen sich durch das unerwartete Nebeneinander verschiedener Materialien und Strukturen auszeichneten. Dieser Albert soll Chefdesigner von Patek Philippe werden?

Junge Menschen mit Talent und rebellischer Kreativität sind keineswegs selten. Das Besondere an Gilbert Albert war, dass er 1955 direkt nach seinem Abschluss an der Genfer École des beaux-arts von Patek Philippe eingestellt worden war – von Henri Stern, der damals noch nicht Präsident, aber bereits dabei war, die Firma nach seinen Vorstellungen zu prägen. Er hatte selber an der École des arts et métiers studiert, und ein Teil von ihm war noch immer der Künstler, zu dem er ausgebildet worden war. Vermutlich sah er in Gilbert Albert ein Spiegelbild seiner selbst. 

Wie der Artikel in «Connaissance des Arts» berichtete, war die Ernennung von Albert als Chefdesigner umstritten. Die prägende Zeitschrift schrieb: «Für ein Unternehmen, dessen Kreationen ein kleines Vermögen wert sind, war es ein enormes Wagnis, sich auf eine solch revolutionäre Politik einzulassen.»

Die anfängliche Skepsis verflog schnell, als die Kreationen von Patek Philippe mit einer Vielzahl von Preisen ausgezeichnet wurden. Beim Prix de la Ville de Genève 1959 erhielt Gilbert Albert eine besondere Erwähnung der Jury für die mit Beryllen, Turmalinen und Diamanten verzierte Damenuhr «Coquille» sowie für das aufsehenerregende asymmetrische Modell «Losange Curviligne», eine geschwungene, rautenförmige Uhr, die unter der unscheinbaren Bezeichnung «Referenz 3424» bekannt wurde.

DURCHSCHLAGENDER ERFOLG

Im folgenden Jahr gewann Albert als einziger Designer in der Uhren- und in der Schmuckkategorie, in Letzterer mit einem abstrakten goldenen Collier mit Korallen, Perlen, Saphiren sowie Diamanten in Baguette- und Birnenform. Ausserdem wurde er drei Jahre in Folge mit dem New York Diamonds International Award ausgezeichnet – ein beispielloser Erfolg.

Sein Aufstieg kann nur als meteoritenhaft bezeichnet werden – ein besonders treffendes Adjektiv, da er als erster Designer Meteoritenmaterial für ein Zifferblatt verwendet haben soll. Seine Kreationen wurden immer eindrucksvoller, und der Zauber seiner Vorstellungskraft hauchte selbst dem nüchternsten aller tragbaren Zeitmesser neues Leben ein: der Taschenuhr. Einer seiner Beiträge für den Prix de la Ville de Genève 1961 war eine spektakuläre Taschenuhr mit Streifenmuster aus strukturiertem Gelbgold, deren Facettenreichtum an einen grob behauenen steinzeitlichen Faustkeil erinnerte. Eine ähnliche, wenn auch etwas sanftere Neuinterpretation der Taschenuhr zeigt die «Ricochet»-Kollektion mit den Referenzen 788/1 und 789: schlanke, steinähnliche Stücke mit gehämmerter oder gravierter Oberfläche, die in den 1960er- Jahren in kleinen Stückzahlen hergestellt wurden.

WINZIGE GEHEIMNISSE

Seine Meisterwerke als Leiter der Designabteilung von Patek Philippe waren jedoch die «montres à secret» für Frauen. Winzige Zeitmesser verbargen sich in grossen abstrakten Anhängern, die aus einem zarten korallenartigen Geflecht aus Weiss- und Gelbgoldblättern gefertigt waren und auf leichten Druck eine Uhr enthüllten, die kaum grösser war als eine Aspirintablette. Sie hingen an prächtig asymmetrischen, strukturierten Halsketten, vergleichbar mit einem Strang von Unterwasserpflanzen, den der Designer – ähnlich wie der mythologische König Midas – in Gold verwandelt hatte.

Das berühmteste dieser Meisterstücke der angewandten Kunst verbarg die Zeit unter einer grossen Barockperle und wurde von der Fürstin Grace von Monaco getragen. Eine ähnliche Uhr wird stolz in einer Werbeanzeige von Patek Philippe gezeigt, in der lediglich der Schriftzug «Creations 1962» zu lesen ist – die Auswahl faszinierender und origineller Designs spricht für sich selbst.

Gilbert Albert fühlte sich immer mehr zum Schmuckdesign hingezogen, gründete 1962 schliesslich sein eigenes Atelier und begann, unter seinem eigenen Namen zu arbeiten. Dabei verbreitete er seine Überzeugung, dass Schmuck «genauso eine künstlerische Kreation sein muss wie ein Gemälde oder eine Skulptur».

Vor einigen Jahren fragte ich Philippe Stern nach Gilbert Albert. «Er war ein echter Künstler und sehr von sich selbst überzeugt», lautete die Antwort, «er hielt sich definitiv für den Besten.» Natürlich war Stern viel zu diskret, um darauf hinzuweisen, dass eine solche Selbsteinschätzung möglicherweise nicht ganz unbegründet ist für jemanden, der zum Chefdesigner von Patek Philippe ernannt wurde.

Eines der rarsten Damenmodelle von Patek Philippe: Ref. 3270 von 1959.
Sorgte 1959 für Furore: die «Losange Curviligne»,
(Ref. 3424).
Wie ein Stück Natur: Seltene Taschenuhr aus
der «Ricochet»-Kollektion (Ref. 788/1).

Beyer Chronometrie