Chez Lalique

In einem abgelegenen Dorf im Elsass entstehen Glasund Kristallobjekte, die die Welt bewegen: René Beyer besucht Lalique-Chef Silvio Denz – und staunt.

Es ist ähnlich wie bei Uhren: Am Ende wirken die Objekte in ihrer Perfektion, als wäre alles ganz einfach. Was dahintersteckt – Erfahrung, Wissen, handwerkliches Geschick –, erschliesst sich auch bei Lalique erst bei einem Blick in die Manufaktur. Allerdings muss man ein paar Kilometer auf sich nehmen, bis man Wingen-sur-Moder erreicht, ein Dorf in den Nordvogesen, das wenig zu tun hat mit der herausgeputzten Hauptroute durchs Elsass. In dieser Ecke gibt es kaum Touristenattraktionen.

Zumindest gab es keine bis vor ein paar Jahren, als bei Lalique so einiges anders wurde. 2008 stand die Traditionsmarke vor dem Aus. Ein indischer Investor besass einen Vorvertrag. Es verdichteten sich die Gerüchte, wonach er das unrentable Werk schliessen und in seiner Heimat produzieren lassen wollte. Die Arbeiterinnen und Arbeiter, Glas-Spezialisten oft seit Generationen, fürchteten um ihre Existenz. Sie gingen auf die Barrikaden, die Gewerkschaften suchten fieberhaft nach Lösungen, der Staat sandte gar einen Minister.

Lalique-Chef Silvio Denz
René Lalique, der «Bildhauer des Lichts», hätte seine Freude: Silvio Denz führt René Beyer mit enormem Wissen durch das betörend schöne Musée Lalique.

DIE RETTUNGSAKTION

Zu dieser Zeit interessierte sich der Schweizer Unternehmer Silvio Denz für den Parfümzweig von Lalique. Den gab es aber nur mit der ganzen Marke, also inklusive Fabrik – und auch nur dann, wenn sich Denz sputen würde: Dank einer Klausel im Vorvertrag mit dem Inder blieb ein Fenster von wenigen Tagen, in denen mit Hilfe der Gewerkschaften und des Ministers etwas zu machen war.

«Ich hatte keine Zeit, um das Werk zu besichtigen», erzählt Denz, während er René Beyer durch die unergründlichen Weiten des Areals führt. «Ich wusste, die Fabrik war in einem veralteten Zustand, viele Maschinen stammten noch aus den 1940er-Jahren. Aber der Preis war fair, und ich glaubte an die Zukunft dieser Marke, denn sie hat eine grosse Vergangenheit. » Denz unterschrieb, erklärte den erleichterten Arbeitern seine Vision und machte sich an die Sanierung. Ein halbes Jahr später meldete Lehman Brothers Insolvenz an, die Weltwirtschaft kollabierte, niemand orderte mehr Luxusprodukte, Lalique blieb auf der Ware sitzen. Denz bezahlte fast ein Jahr lang 250 Mitarbeitende aus dem eigenen Sack.

FIXPUNKT AUF DER BUCKET LIST

Der 67-Jährige lächelt kurz, bevor er von einem Abkühlrost einen gläsernen Panther nimmt und schildert, wie der Rohling durch etwa vierzig Paar Hände und vier Qualitätskontrollen gehen und an unzähligen rätselhaften Maschinen geschliffen, verziert und graviert wird, bis das fertige Objekt irgendwo auf dieser Welt unter einem Spot zu jenem Leben erwacht, das Lalique- Objekten eigen ist.

Denz’ Plan ging auf, trotz Finanzkrise, trotz Covid: Heute macht die Lalique Group rund 200 Millionen Franken Umsatz. Die Nachfrage übertrifft die Produktionskapazität bei Weitem, die Lieferzeiten betragen bis zu zehn Monate. Und das abgelegene Wingen-sur-Moder ist zum Fixpunkt auf der Bucket List internationaler Gourmettouristen geworden. Das freut Denz besonders. Nicht nur, weil die Zimmer der Villa René Lalique auf Monate ausgebucht sind und die beiden Michelin- Sterne des Restaurants ein neugieriges vermögendes Genussvolk anlocken. Sondern weil man sich wieder für das Leben und Wirken von René Lalique interessiert, dem legendären «Bildhauer des Lichts», dessen künstlerisches Erbe Denz als Gralshüter so umsichtig in die Zukunft führt – mit einer Detailkenntnis, die auch René Beyer zum Staunen bringt.

«ICH GLAUBTE AN DIE ZUKUNFT
DIESER MARKE, DENN SIE HAT
EINE GROSSE VERGANGENHEIT.»

Lalique Manufaktur
Alles Handarbeit: Gestaltung der Gussform, Details an einer Vase, Originalgravur.

Als Liebhaber exquisiter Handanfertigungen geniesst er die kompetenten Erläuterungen von Silvio Denz genauso wie die Atmosphäre dieses Werks, das hinter jeder Tür mit einem neuen Geheimnis aufwartet. Im «Elefantenraum» etwa wachsen brusthohe bucklige Gebilde heran: Öfen, die später für besondere Brennvorgänge genutzt werden. Insgesamt neun Monate benötigen die Töpfer für einen solchen Bau aus speziellem Bordeaux-Lehm, der gerade mal 45 Tage im Einsatz stehen wird, bevor er rissig wird und abbruchreif. «Es ist unglaublich eindrücklich, wie hier alles von Hand entsteht und wie vieles nirgends geschrieben steht, nur in den Köpfen dieser Arbeiterinnen und Arbeitern existiert, die mit aller Zeit agieren, die es braucht», schwärmt René Beyer. «Und am Schluss ergeben all die kleinen Schritte ein Objekt, das besser und schöner nicht gefertigt werden könnte.»

Aus einem Atelierraum ist Beyer kaum mehr wegzubewegen: Hier sieht es definitiv aus wie bei Uhrmachern. Die Werkbänke sind übersät mit filigranen Instrumenten, gearbeitet wird auch mal unter der Lupe. Sachte hämmert ein Arbeiter auf einen Bolzen, es ist mehr ein Streicheln: In einer Gussform für eine Vase mit Vogelsujets haucht er dem Auge eines Tiers Lebendigkeit ein. In einem anderen Raum wird gerade ein gigantischer Leuchter hochgezogen, die Bestellung eines Hotels aus den USA. Kostenpunkt: 250 000 Franken. In der Halle dahinter wirken die Männer und Frauen in ihren wasserfesten Schürzen und Gummistiefeln wie aus einer Fischabteilung: Es handelt sich um die besten Kunstschleifer Frankreichs, die unter fliessendem Wasser aus unförmigem gepresstem Glas zarte Skulpturen zaubern. Ohne Vorlage, lediglich mit einer Vision im Kopf.

«BEI LALIQUE ERHÄLT
DER BEGRIFF MANUFAKTUR
EINE NEUE DIMENSION.»

Lalique Manufakturbesuch mit Silvio Denz
Als ob die Raubkatzen gleich zum Sprung ansetzten: Die besten Schleifer Frankreichs hauchen dem Glas Leben ein.

«Wir wollen absolut unabhängig bleiben », sagt Silvio Denz. «Darum stellen wir auch kleinste Hilfsmittel selber her.» Beim sonst zurückhaltenden, ruhigen Unternehmer schwingt ein wenig Stolz mit. Er reicht René Beyer eine schwere Kristallkaraffe und bedeutet ihm, sie an ihrem Verschluss, einem einfachen Zylinder, zu greifen: Tatsächlich, der «Zapfen» hält fest – er wurde individuell für diese Flasche gefertigt, so wie alle anderen Pfropfen für alle anderen Karaffen. «Bei Lalique erhält der Begriff Manufaktur eine ganz neue Dimension», schwärmt René Beyer.

Und wir fragen Silvio Denz, wann er gedenke, eine Uhrenfirma in sein Portfolio aufzunehmen; so weit hergeholt dünkt uns die Idee nicht. Er schüttelt schmunzelnd den Kopf: «Wir bleiben bei dem, was wir können. Ich liebe Uhren, doch von ihrer Produktion verstehe ich zu wenig.» Nun gut, denken wir schweigend: Vor 15 Jahren wusste Silvio Denz ja auch noch nichts über die Glas- und Kristallproduktion.


Lalique-Chef Silvio Denz

Sieben Fragen zur Zeit an Lalique-Chef und Unternehmer Silvio Denz.

«QUALITÄT BRAUCHT IHRE ZEIT»

Sie sind pausenlos unterwegs: Was ist Ihr grösster Trick, um Zeit zu sparen?
Ich versuche, die Zeit effizient zu bündeln, indem ich Termine zusammenlege, um nicht im Zickzack von Zürich nach Paris nach Bordeaux reisen zu müssen. Und in der restlichen Zeit verzichte ich auf eine Agenda.

Bei welcher Tätigkeit vergessen Sie die Zeit?
Wenn ich mit meinen beiden Enkeltöchtern zusammen bin. Im November werden sie jährig.

Was dauert Ihnen viel zu lange?
Ein neues Projekt. Entscheidungswege bei Markenpartnern sind oft recht lang. Wenn man Ideen hat, möchte man loslegen und sie schnell verwirklichen.

Wenn Sie eine Zeitreise machen könnten: Wohin würden Sie sich beamen?
Ich würde in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg reisen, nach Paris, mitten in die Roaring Twenties, den Art déco. Ich stelle mir diese Zeit ähnlich vor wie nach Corona: Man will die dunklen Jahre vergessen und wieder reisen, geniessen, leben.

Welchem Zeitzeugen würden Sie da am liebsten begegnen?
Natürlich René Lalique – am besten auf einer Reise im Orient-Express: Die kunstvollen Glasdekorationen im legendären Zug gelten als eine seiner wichtigsten Arbeiten.

Wann nimmt sich jemand, der so viele Projekte gleichzeitig führt, Zeit zum Entspannen?
Im Sommer, wenn ich weiss, dass die Fabrik geschlossen ist, die Leute in den Ferien sind. Dann fällt auch mir das Entspannen einfacher. Im August verbrachte ich zehn Tage bei befreundeten Winzern im Napa Valley.

Wenn Sie die Zeit vorwärtsdrehen könnten: Was würden Sie sich ansehen?
Die Villa Florhof, mit ihr geht für mich ein Traum in Erfüllung – ein Hotel samt lauschigem Garten mitten in Zürich! Wir haben Ähnliches vor wie mit der Villa René Lalique, möchten im ersten Stock kulinarisch auf höchstem Niveau spielen. Im Garten aber werden wir bodenständige Gerichte servieren. Eigentlich wollten wir 2024 eröffnen, doch es wird wohl 2025: Qualität braucht ihre Zeit.


SCHWELGEN UND TRÄUMEN

Wingen-sur-Moder liegt rund dreieinhalb Autostunden von Zürich entfernt, respektive eine knappe Stunde hinter Strassburg in den Hügeln der Nordvogesen. Diese drei Highlights lohnen sich besonders:

MUSÉE LALIQUE
Selten haben wir ein Museum besucht, das auf so moderne, zugängliche Art die Geschichte eines Jahrhunderts, von einen Trends und Gesellschaftsträumen erzählt – anhand von Flacons, Vasen, Glasund Kristallkunstwerken. Im Zentrum stehen René Lalique und die drei Fs, die ihn inspirierten: Fauna, Flora, Femmes.

musee-lalique.com

VILLA RENÉ LALIQUE
Das 1920 erbaute Wohnhaus von René Lalique wurde 2015 nach allen Regeln der Kunst restauriert und als Boutique-Hotel (Relais & Châteaux) mit sechs aussergewöhnlichen Zimmern wiedereröffnet. Der Nebenbau mit Restaurant (zwei Michelin- Sterne) und exquisitem Weinkeller stammt von Mario Botta.

villarenelalique.com

CHÂTEAU HOCHBERG BY LALIQUE
Das Landhaus aus dem 19. Jahrhundert konnte Silvio Denz von der katholischen Kirche erwerben. Überaus geschmackvoll renoviert, erstrahlt es heute als Viersternehotel mit 15 individuellen, hellen Zimmern, gehobener Küche und erstaunlich moderaten Preisen. Es befindet sich in einem Park gleich gegenüber dem Musée Lalique.

chateauhochberg.com