Es ist spät geworden an diesem Abend im April 1989, durchs Fenster strömt salzige Meeresluft. Im Salon, am einladenden Holztisch, strecken zwei Männer die Köpfe zusammen. Sie haben die Zeit vergessen, obwohl sie seit Stunden über nichts anderes diskutieren als die Möglichkeiten, ihr mit ebenso exakten wie ästhetischen mechanischen Messinstrumenten gerecht zu werden.
Der Gast im grossen Haus auf der Isle of Man heisst Theodor Beyer. Auch dank seinem Museum hat sich der Uhrenhändler aus Zürich weit über die Schweiz hinaus einen Namen gemacht; die Sammlung zählt zu den bedeutendsten der Welt. Fast noch wichtiger ist seine Meinung zu neuen Entwicklungen, auf sie vertraut nicht nur eine Reihe wichtiger Uhrenmarken, sondern auch Gastgeber George Daniels, der wohl begnadetste Uhrenerfinder seiner Epoche, ein Autodidakt und Tüftler, für den die Grenzen des Machbaren höchstens vorübergehend zu existieren scheinen.
Die beiden Männer erheben sich, es wird Zeit. Da greift Daniels in seine Hosentasche und nestelt umständlich ein baumwollenes Taschentuch hervor, in dem sich etwas Flaches, Rundes abzeichnet. «Teddy», sagt er leise, «Teddy, ich denke, das hier ist bei dir gut aufgehoben.» Erstaunt nimmt Theodor Beyer das Bündel entgegen und lässt es ehrfürchtig in seine Vestontasche gleiten: Er muss sich den Inhalt nicht ansehen, um zu wissen, dass das Stück Stoff einen der aufregendsten Zeitmesser der Gegenwart beschützt, kreiert von diesem Genie, das es, bevor sein Stern aufging, alles andere als einfach hatte.
Seine Kindheit in den Arbeitervierteln Nordlondons war von Entbehrungen geprägt. Mit zehn Geschwistern und zwei Halbgeschwistern in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen, musste er früh mit anpacken, damit die Familie irgendwie über die Runden kam. Mangels Spielzeuge beschäftigte er sich mit dem einzigen Zeitmesser, der daheim rumstand, einem Wecker. Immer wieder öffnete er ihn und studierte das Werk. Als die Mutter den 14-Jährigen von der Schule nahm und zur Arbeit in einer Matratzenfabrik schickte, begann sich in ihm Widerstand zu regen. Daniels beschloss, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Er war immer seltener zu Hause, verdiente sein Geld bald als Laufbursche – und fand einen Job in einer Autogarage. Dort stand er zumindest mit einem Fuss in der mechanischen Welt, die ihn so faszinierte.
GEISTIGER NACHFOLGER BREGUETS
Er verschlang Uhrmacherbücher und reparierte Zeitmesser von Verwandten und Bekannten. Während des Militärdiensts in Ägypten richtete er in seinem Nachttisch sogar eine kleine Werkstatt ein. Und dann klappte es doch noch mit seinem Traum: Er erhielt eine Anstellung im Reparaturservice eines Uhrmachers. Dadurch konnte er sich an der Abendschule für eine dreijährige Ausbildung einschreiben. Daniels tauchte vollends ein ins Universum der Uhren und machte sich bald einen Namen als sensibler Restaurateur antiker Zeitmesser. Jener Uhren also, die sich seine grossen Vorbilder ausgedacht hatten, allen voran Abraham-Louis Breguet.
George Daniels erlebte eine Art Aschenputtel- Geschichte, wurde bald mit Preisen überschüttet und mit dem Orden of the British Empire im Rang Commander ausgezeichnet. Mit jeder seiner Taschenuhren fügte er der Geschichte der Zeitmessung ein neues Kapitel hinzu; es sollten bis zu seinem Ableben (2011) 23 Einzelstücke werden. Dazu kamen vier komplizierte Armbanduhren sowie die berühmte «Millennium», von der lediglich 47 Exemplare in Gold hergestellt wurden.
Seine berühmteste Erfindung, die Co- Axial-Hemmung, sollte ein unlösbares Problem beheben: das Aneinanderreiben mechanischer Teile durch ausgetrocknetes Schmieröl und die entsprechenden zerstörerischen Auswirkungen auf das Uhrwerk. Der Traum war ein ölfreies Werk. Tatsächlich gelang es Daniels, die Reibung der Mechanik bedeutend zu verringern. Anders gesagt: Uhren mit dieser neuartigen Hemmung nutzten sich weniger stark ab und mussten seltener gewartet werden.
Aber auch ästhetisch kultivierte er eine eigene Sprache: Inspiriert von seinem wichtigsten Vorbild Abraham-Louis Breguet, schuf er Zeitmesser von einzigartiger Schlichtheit. Von der kleinsten Schraube bis zum Zifferblatt fertigte er jede einzelne Komponente aus ihrem Rohmaterial: Sämtliche Arbeitsschritte führte er eigenhändig durch, obwohl es für die Herstellung einer Uhr bis zu 30 verschiedener Berufe bedarf.
1982 zog George Daniels von London in das Haus auf die Isle of Man. In seiner Werkstatt verhalf er auch alten Autos zu einem zweiten Leben, seine andere Leidenschaft. Vor allem aber sprengte er die Grenzen der Zeitmessung. Sein erstes Meisterwerk, das hier entstand, war die «Space Traveller»-Taschenuhr, ein heute legendäres mathematisches Präzisionsinstrument: 2019 wurde sie für über viereinhalb Millionen Dollar versteigert – als teuerste je an einer Auktion verkaufte britische Uhr.
MASTERPIECE: «THE MILLENNIUM»
Die Armbanduhr mit Co-Axial-Hemmung kam im Jahr 2000 in die Beyer-Sammlung. Sie ist eine von 47 Exemplaren in Gelbgold, die nach Daniels Prototyp angefertigt wurden, und gilt neben der «Space Traveller» als sein wichtigstes Masterpiece.
REVOLUTIONÄRE ERFINDUNG
Sie gilt als die letzte grosse Innovation der Uhrenindustrie: die Co-Axial-Hemmung von George Daniels. Selbst wenn ein Uhrwerk perfekt läuft und optimal geschmiert ist: Die Mechanik verursacht stets Reibung. Und Reibung vermindert die Genauigkeit. Daniels' Anspruch war, diese Reibung aufs absolute Minimum zu verringern. Zuerst entwickelte er eine Chronometerhemmung mit Wippe und zwei Hemmungsrädern, die separat von je einem Räderwerk mit eigener Zugfeder angetrieben werden («The Beyer»). Die Weiterentwicklung davon war schliesslich die Co-Axial-Hemmung: Der Kontakt zwischen den Paletten und den Zähnen der zwei übereinanderliegenden Hemmungsräder ist geringer als bei der Schweizer Ankerhemmung, da die Reibung auf drei Paletten verteilt wird. Damit laufen Uhren nicht nur zuverlässiger, sie benötigen auch weniger Wartung. Theodor Beyer ermunterte Daniels, mit seiner genialen Entwicklung an die grossen Schweizer Marken heranzutreten. Diese zierten sich, denn eine neue Hemmung würde das Umrüsten grosser Produktionen bedeuten und viel Geld kosten. Es war Nicolas G. Hayek, Chef der Swatch Group, der das Potenzial erkannte. 1999 erschien die erste Armbanduhr von Omega mit Co-Axial-Hemmung. Dank der Innovation schaffte es die einst serbelnde Marke zurück an die Spitze der Schweizer Uhrenbranche.