Behutsam hebt Thomas Hürlimann die Uhr aus der Kiste, stellt sie an ihren alten Ort im Bücherregal und löst den Sperrhebel der Unruh: Tatsächlich, die Atmos atmet. Noch vor einem halben Jahr hätte er nicht darauf gewettet. In einem Interview mit der NZZ erzählte er von einem Uhrmacher, der dem väterlichen Erbstück Unheilbarkeit beschied. Darauf bot ihm das beyond an, den Atmos-Spezialisten aus dem Beyer-Atelier nachschauen zu lassen.
Luca Casciana beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit der legendären Tischuhr von Jaeger- LeCoultre. «Das Modell hier ist doppelt besonders», sagt er. «Einerseits trägt es die Nummer 0000, was auf eine Sonderausführung für Bundesräte hinweist. Anderseits handelt es sich um eine Referenz 8561, ein Modell zum 50-Jahre-Jubiläum der Atmos 1981 mit Email-Zifferblatt, einem aussergewöhnlichen mattierten Goldgehäuse und Breguet-Zeigern. Das sieht man nicht alle Tage.»
Einen schlimmen Defekt konnte er bei Hürlimanns Uhr allerdings nicht orten: «Sie wurde einfach sehr, sehr lange nicht mehr gewartet.» Also nahm er eine komplette Revision vor, zerlegte das Werk, reinigte sämtliche Teile, überarbeitete und polierte alle Lagerzapfen, ersetzte die Zugfeder und das Ankerrad, bläute die Schrauben neu. Er setzte eine neue Membrane ein, dieses zentrale Element, das sich bei der kleinsten Temperaturveränderung ausdehnt und zusammenzieht und mit dieser Bewegung die Atmos überhaupt erst antreibt.
Ein bisschen Öl fürs Grossbodenrad und auch fürs Aufzugsrad und Fett für die Ankerpalette, dann liess Luca Casciana die Uhr 48 Stunden sich einpendeln, um auf Betriebstemperatur zu kommen, wie ein Sportler, der sich einwärmt. Als er sie überprüfte, staunte er, wie genau sie lief: Eine Sekunde Vorgang pro Tag ist für eine Atmos ein hervorragender Wert. Nach der Feinregulierung war die Uhr fertig – und Casciana stolz: «Eine Atmos ist immer ein filigranes Kunstwerk, man muss vorsichtig daran arbeiten. Wenn sie schliesslich ruhig und regelmässig atmet, ist man fast ein wenig gerührt. Selbst nach zehn Jahren noch.»
DIE ATMENDE UHR
Die Atmos (Atmosphärische Uhr) von Jaeger- LeCoultre gewinnt ihre Antriebskraft aus Temperaturschwankungen. In einer Membrane verändert das Gas Chlorethan sein Volumen, dehnt sich und zieht sich zusammen. Ein einziges Grad Celsius Unterschied reicht, um das Werk für etwa 48 Stunden aufzuziehen. Die einzigartige Uhr dient dem Schweizer Bundesrat seit vielen Jahrzehnten als offizielles Geschenk bei Staatsbesuchen – und als Abschiedsgeschenk wie bei Hans Hürlimann, der von 1973 bis 1982 Innenminister war.
VON ZEIT UND EWIGKEIT
Im alten Fährhaus am Zugersee betrachtet Thomas Hürlimann das Drehpendel seiner Atmos, wie es hin- und herschwingt in einer fast schon hypnotischen Langsamkeit.
Herr Hürlimann, was für ein Verhältnis haben Sie zu dieser Uhr?
Mein Vater hat sie 1982 als scheidender Bundesrat bekommen. Trotzdem erinnert sie mich vor allem an meinen Bruder.
An Ihren Bruder, wieso das?
In meinem Elternhaus in Zug stand im Bücherregal des Vaters immer eine Uhr – ursprünglich eine normale Tischuhr, später die Atmos. In diesem Haus starb im jungen Alter von zwanzig Jahren mein Bruder an Krebs. Damals blieb die Tischuhr stehen – oder mir fiel beim Tod des Bruders zum ersten Mal auf, dass sie stand; die Zeiger zeigten zwanzig vor vier. Nach dem Rücktritt meines Vaters als Bundesrat wurde die Tischuhr durch die Atmos ersetzt. Es änderte nichts daran: Auch diese Uhr blieb für mich mit meinem Bruder verknüpft.
Wann kam die Uhr zu Ihnen?
as war wieder ein paar Jahre später. Nach dem Tod meines Vaters vertraute meine Mutter die Atmos mir an. Atmos-Uhren sind sensibel und ertragen keine Erschütterungen; nach einem Umzug lief die Uhr nicht mehr. Sie erhielt trotzdem einen Platz in meinem Bücherregal. Zur Erinnerung an meinen Bruder stellte ich die Zeiger auf zwanzig vor vier. Die Atmos war für mich, wie früher die Tischuhr im Gestell meines Vaters, eine Art Grabstein meines Bruders. Ich bin gerührt, dass mir Beyer heute die Zeit zurückbrachte, was für ein Geschenk. Die Atmos atmet wieder. Werden und Vergehen, Vergehen und Werden – das ist das Geheimnis der Zeit.
Dieses Geheimnis zieht sich als grosses Thema durch Ihr literarisches Schaffen, wieso?
Das Thema wurde stark von den acht Jahren Klosterschule geprägt. Wir lebten in der ständigen Wiederholung, ohne dass die Zeit zerrann. Das Jetzt wurde aufgehoben und verschmolz mit dem Immer. Es kommt nicht von ungefähr, dass es Mönche waren, die um das Jahr 1000 die runde Uhr erfunden hatten, um stets im selben Rhythmus zu leben, in denselben Einheiten, im Werden und Vergehen. Alles ist Routine, man spart Energie und konserviert sich selbst: Vielleicht haben Mönche deshalb oft noch im Alter rosige Backen und eine straffe Haut.
Wie hat sich die Zeit seither in Ihrer Wahrnehmung verändert?
Einerseits befinden wir uns an einer Zeitenwende, indem wir die Zeit digitalisieren, sie zertrümmern, indem wir ihr das Runde nehmen, das Wiederkehrende, wie wir es in der Natur erleben, den Fluss. Wir zwingen sie ins Digit, wo sie sich in Zeichen auflöst, in ein gehetztes Stakkato. Gleichzeitig gehen die Jungen wieder ganz anders mit der Zeit um: Sie machen viel ungefährer ab, nicht «um vier», sondern «am Nachmittag». Weil sie per Handy permanent verbunden sind, finden sie sich irgendwo auf diesem Zeitfluss.
Wir denken: Hinter uns liegt die Vergangenheit, vor uns die Zukunft. Die Griechen aber sagten: Hinter uns liegt die Zukunft, vor uns die Vergangenheit. Welche Mentalität liegt Ihnen näher?
Ich habs mit den Griechen und rolle meine Vergangenheit, die ich kenne, gern wie einen Teppich vor mir aus. Ich bin auch einer, der im Zug lieber rückwärts fährt und das Währende verschwinden sieht. Das wiederum war für meinen Vater grauenhaft: Er wollte immer nur vorwärtsschauen und sehen, was kommt. Man kann sich natürlich auch zu fest mit der Vergangenheit beschäftigen, dann verschwindet man selbst darin.
Sie tragen keine Uhr?
Ich hatte mal eine Uhr, eine «Eterna-Matic». Als ich zusammen mit Jürg Federspiel und Adolf Muschg für einen Kulturaustausch nach New York eingeladen wurde, traf es den Jüngsten, also mich, um mich beim Konsul zu bedanken. Dieser fragte mich bald, was für eine Uhr ich trage. Ich zeigte sie ihm. Er konnte sich kaum mehr erholen, schüttelte nur den Kopf. Später erfuhr ich, dass er dachte, ich sei der Tissot-Vertreter aus der Schweiz.
Was ist aus der Uhr geworden?
Auf einer Lesereise irgendwo im deutschen Hinterland wurde es spät. Als ich ins Hotel zurückwollte, hatte es geschlossen. Ich fand ein Lokal, in dem eine türkische Hochzeit im Gang war, und fragte, ob ich an der Wärme die Zeit überbrücken darf. Die Türken luden mich spontan ein mitzufeiern, und ich schenkte der Braut alles, was ich besass, also meine «Eterna-Matic».
Sie tragen auch keinen Schmuck, obwohl Sie in Ihrem letzten Roman einen roten Diamanten geradezu verehren.
Mich fasziniert der Diamant, das härteste, unverletzbarste Material der Erde. Er birgt tatsächlich so etwas wie die Ewigkeit. Ich liebe es, über Edelsteine nachzudenken, am liebsten mit Platon, bei dem sie im Dialog «Phaidon» eine grosse Rolle spielen. Aber einen Ring zu tragen wie etwa James Joyce, der sich damit als Papst der Literatur inszenierte, das liegt mir nicht. Trotzdem empfinde ich Freude, wenn ich schönem Schmuck oder einer runden Uhr begegne – beides gibt auch Aufschluss über den Träger. Jemanden, der eine mechanische Uhr besitzt, sehe ich anders als jemanden mit einer Apple Watch. Ich würde mich nie in eine Frau mit einer digitalen Uhr verlieben.
Was hat die Zeit aus Ihnen gemacht, von dem Sie dachten, dass es Ihnen nie passieren würde?
Mit sechzehn wollte ich älter sein. Mit fünfzig jünger. Jetzt bin ich in einem Alter, wo ich langsam zum Wunsch komme, mit mir gleichzeitig zu sein. Nicht älter, nicht jünger, sondern so alt, wie ich tatsächlich bin. Ich bin mit mir synchron.
THOMAS HÜRLIMANN
Er zählt zu den bedeutendsten Schweizer Schriftstellern: Thomas Hürlimann (1950) wuchs in Zug auf, absolvierte das Gymnasium an der Stiftschule Einsiedeln, studierte Philosophie in Zürich und Berlin und arbeitete als Dramaturg am Theater, bevor er sich ganz aufs Bücherschreiben konzentrierte. Sein jüngster Roman, «Der rote Diamant» (2022), führt zurück in die Klosterschule Einsiedeln: Wir empfehlen das Meisterwerk nicht nur der fulminanten Sprache und des wunderbaren Humors wegen. Es geht darin auch virtuos um Aspekte der Zeit und die Faszination für Edelsteine – die Themen von Beyer Uhren & Juwelen.