NICHOLAS FOULKES Der britische Historiker, Buchautor und Journalist gilt als profundester Kenner von Patek Philippe. Fürs beyond kommentiert er spezielle Epochen und Phänomene.
VIRTUOS MIT NUR DREI ZEIGERN
Als Patek Philippe die höchst erfolgreiche «Nautilus» einstellte, spielte die Welt verrückt. Dabei war das nur konsequent.
Eine Patek Philippe gehört einem nie ganz allein. Man erfreut sich ein Leben lang an ihr, aber eigentlich bewahrt man sie schon für die nächste Generation. Zu diesem bekannten Slogan von Patek Philippe gesellte sich vor Kurzem ein weiterer einprägsamer Werbespruch: «Es gibt keinen Star.»
Wenige Worte mit unglaublich viel Bedeutung. Der Slogan sagt fast alles, was man über die berühmte Marke mit dem Calatrava-Kreuz wissen muss. Patek ist eine der letzten verbleibenden Uhrenmarken, wenn nicht sogar die letzte der Haute Horlogerie, die noch in allen Bereichen aktiv und relevant ist: Grandes Complications, grosse und mittlere Komplikationen, Sport-, Schmuck- und Dress-Uhren, seltene Kunsthandwerke und einfache Zeitmesser.
Ein Beweis dafür, dass Patek sich nicht an einem einzigen Modell messen lassen will, war Thierry Sterns Entscheidung, 2021 die Produktion der «Nautilus» (Referenz 5711) einzustellen – zu jener Zeit die begehrteste Uhr auf unserem Planeten. Eine Entscheidung, die im Sitzungssaal der Vereinten Nationen zu hitzigen Debatten führte, die Finanzmärkte der Welt in Aufruhr versetzte und die Prophezeiung einer Apokalypse heraufbeschwor. Mitten in diesem Trubel um den Ruhestand der stählernen «Nautilus» überraschte Patek Philippe mit einer Uhr, die damals niemand erwartet hatte und die auch nicht alle bemerkten: die «Calatrava» mit Clous-de-Paris-Lünette, Referenz 6119. Bei denjenigen unter uns, die alt genug sind dafür, weckte diese Uhr Erinnerungen an die Referenz 3919 aus dem Jahr 1985: Die schlanke, münzenähnliche Erscheinung informierte den Träger diskret über Stunden, Minuten und Sekunden, während das Licht sanft mit der guillochierten Lünette spielte.
DIE NEUE SCHÖNE
Der diskrete und vertraute Auftritt der Referenz 6119 täuschte über ihre Bedeutung hinweg. Denn ihr Kaliber war kein anderes als das brandneue 30-255 PS mit Handaufzug und zwei parallel geschalteten Federhäusern, die gemeinsam auf das Minutenrad einwirken. Die Referenz 6119 ist der Inbegriff des umgekehrten Snobismus – bietet sie doch nur das für die Zeitmessung Nötigste.
Sie ist perfekt für den Puristen, der es schätzt, regelmässig die Aufzugskrone zu betätigen und so die Verbindung zu seiner Uhr aufrechtzuerhalten. Hingegen ist sie nichts für den Träger, der seine Uhr nach dem Einstellen vergessen und sich ganz auf den automatischen Aufzug verlassen möchte. Sie ist ein typischer Patek-Zeitmesser, und wie Sie vielleicht gemerkt haben, bin ich sehr von ihr angetan. 2022 griff Patek erneut zu denselben Zutaten – Clous de Paris, Stunden, Minuten und Sekunden (plus Datum) – und schuf daraus die Referenz 5226. Das Ergebnis hätte anders nicht sein können. Das Clousde- Paris-Dekor schmückte das gesamte Gehäuseband, nicht mehr die Lünette. Es wurde ein Gehäusetyp erfunden, bei dem die Bandanstösse am Gehäuseboden statt an der Gehäusewand befestigt sind.
Seringue- Zeiger und ein Zifferblatt, dessen Textur an das Gehäuse einer Vintage-Kamera erinnert, verleihen der Uhr ein retro-modernes Aussehen. Mit dieser virtuosen Demonstration von Vielseitigkeit erinnerte uns Patek Philippe daran, dass wir die einfachen Drei-Zeiger-Uhren übersehen oder unterschätzen – zu unserem eigenen Nachteil.
«DIE ‹CALATRAVA›
KANN JEDE ROLLE
PERFEKT SPIELEN.»
Die «Calatrava»-Kollektion, deren erstes Modell die gefeierte Referenz 96 war, ist für die Geschichte der Marke von grosser Bedeutung. Sie repräsentiert den Beginn der Stern-Ära. Die Familie (ehemalige Zifferblattmacher, die unter anderem auch Patek beliefert hatten) stand an der Spitze einer Investorengruppe, die die Marke 1932 vor dem Ruin rettete. Hier begann für die Marke der Aufstieg zur heutigen Grösse – und einen bedeutenden Teil des Erfolgs verdankt sie den Grundlagen, die die Referenz 96 damals geschaffen hatte. Heute ist es unmöglich, Patek Philippe zu verstehen, ohne sich bewusst zu sein, welches Mass an Vielfalt und Bedeutung die Marke einer Drei-Zeiger-Uhr entlocken kann: Jeder Zeitmesser ist anders, und jeder ist ein Meisterwerk.
Um den Kreis zu schliessen und zum neuen Slogan von Patek Philippe zurückzukehren, dass es keine Stars gebe: Angesichts der aussergewöhnlichen Schönheit und der Vielfältigkeit, die Patek Philippe mit nur drei Zeigern (und einem riesigen Schatz an uhrmacherischem Savoir-faire) kreieren kann, würde ich den Wahrheitsgehalt dieser Aussage vorsichtig infrage stellen. Die «Calatrava» von Patek Philippe ist eine so talentierte Darstellerin, dass sie jede Rolle perfekt spielen kann und für jede Gelegenheit passend ist – ohne dem Träger jemals die Show zu stehlen. Ist das nicht die Definition eines echten Stars?