Das Original

Der Mercedes-Benz 300 SL gilt als Jahrhundertauto und Hans Kleissl als sein Übervater. Zu Besuch in Oberbayern – dem Schlaraffenland für Oldtimer-Fans.

Aus den Ohrmuscheln scheppert Schlagzeuggewitter, Gitarren jaulen: Matthias Ulrich hat sich den Kopfhörer um den Hals gelegt. Er zieht an einem Zigarillo und trägt ein dermassen zufriedenes Grinsen im Gesicht, dass man sich fragt, ob er möglicherweise etwas zu intensiv am Nitroverdünner geschnüffelt hat, mit dem er gerade einen Stofflappen befeuchtet. Matthias lacht: «Nein, nein, ich habe einfach Freude an dem, was ich hier mache.»

Das, was der Karosseriebauhelfer macht, ist tagein, tagaus dasselbe seit über vier Wochen: Er tunkt den Lappen in den Nitroverdünner und reibt damit sachte an der Karosserie des sichtlich mitgenommenen 300 SL Roadster, als wolle er einen Flaschengeist befreien. Stattdessen erlöst er das Gefährt Zentimeter für Zentimeter vom bronzenen Lack. Und vom champagnerfarbenen Lack darunter. Und auch vom silbernen Lack unter diesem. Bis der Originallack zum Vorschein kommt, in dem der Roadster 1957 das Werk verlassen hatte: Erdbeerrot Metallic.

In diesen langen Stunden, Tagen, Wochen baue man eine persönliche Verbindung auf zum Auto, sagt Matthias. Und seine Arbeit sei wohl das Beste, was ihm habe passieren können: Er habe ADHS, doch wenn er ein Gefährt in meditativer Handarbeit vom Lack befreie, also quasi von einem Kleid, das ihm aus Willkür aufgezwungen worden war, dann überkomme ihn eine tiefe Ruhe.

HK-Engineering im oberbayrischen Polling ist der weltweit einzige Restaurationsbetrieb, der sich ganz dem Mercedes- Benz 300 SL verschrieben hat, dem «Jahrhundertauto », als das er gern bezeichnet wird. In der geschmackvoll sanierten ehemaligen Klosteranlage arbeiten sechzig Menschen aus zehn Nationen, Mechaniker, Spenglerinnen, Motorenbauer, Sattlerinnen, alles Fachleute für die Spezialitäten, die dieses ungewöhnliche Fahrzeug fordert. Lediglich 1858 Stück in der Version Roadster gibt es weltweit und 1400 Stück des noch begehrteren Flügeltürers: Den Gullwing bekommt man inzwischen nicht unter einer Million Franken.

«DER LÄRM, DENER MACHT, IST
MUSIK IN DEN OHREN DER UMSTEHENDEN,
FAST EIN TRIUMPHALESHEULEN.»

Mercedes-Benz 300 SL
Dem Schönling mit Jahrgang 1954 fliegen die Herzen zu: Der IWC Racing Gullwing kehrt heim.

IWC RACING: SCHÖN SCHNELL

Vor fünf Jahren rief IWC ein Motorsportteam ins Leben. Als Gefährt kam nur eines infrage: der Mercedes-Benz 300 SL. Es sind ausgewählte historische Rennveranstaltungen, an denen der Gullwing wie kein anderes Fahrzeug die Kernwerte von IWC transportiert – Stil, Qualität, Originalität und grossartige Handwerkskunst. Doch nicht nur der 300 SL lässt die Herzen von Oldtimer-Fans höherschlagen, auch seine Fahrer haben klingende Namen: Nebst David Coulthard, Karl Wendlinger und Bernd Schneider sitzt seit 2021 Laura Kraihamer im Cockpit.

Die beste Quelle für Rennberichte, Hintergrundinformationen und andere Insights ist das IWC Journal: iwc.com/ch/de/ journal.html

ZURÜCK IN DER ZEIT

Eine sorgfältige Rückführung in den Originalzustand dauert locker ein Jahr, oft auch länger. Matthias zieht am Zigarillo und zeigt auf einen lose runterhängenden, spröden Dichtungsgummi: «Selbst den werden wir nicht etwa wegwerfen, sondern hätscheln und pflegen, bis er wieder weich und geschmeidig ist und bereit für ein paar weitere Jahrzehnte.» Jede einzelne Schraube wird sandgestrahlt, verzinkt und wiederverwendet, in der Sattlerei das Originalleder vorsichtig entfernt, gepflegt und neu aufgepolstert. Matthias horcht auf. Sein Grinsen wird noch etwas breiter. Von der anderen Gebäudeseite ist ein markantes Röhren zu hören: «Oh, der IWC Racing Gullwing ist da!»

Es gibt einen kleinen Menschenauflauf um den imposanten Vintage-Transporter von IWC, aus dessen Bauch jetzt röhrend der Rennwagen schlüpft. Der Lärm, den er macht, ist Musik in den Ohren der Umstehenden, fast ein triumphales Heulen: Der IWC-Botschafter kehrt heim, nachdem er am Bergrennen Arosa ClassicCar ein weiteres Abenteuer bestanden hat. Dass dem Schönling mit Jahrgang 1954 neben Kennerblicken auch die Herzen zufliegen, liegt nicht zuletzt am eleganten silbergrauen

Outfit mit der Nummer 68, dem Gründungsjahr von IWC (1868). Wie nach jedem Rennen wird der Gullwing erst einmal auf der Hebebühne auf Zündung und Zylinderkopf gecheckt.

Viel wird man nicht machen müssen, sagt Zoltan Szaveri, der Rennmechaniker: «Das Auto ist enorm zuverlässig gebaut und hält fast alles aus.» Selbstredend, dass für die Rennwagen eigene Kriterien gelten respektive das Credo der Originalität grosszügig ausgelegt wird. Aus Sicherheitsgründen etwa sind die Seitenscheiben aus Plexiglas. Auch wurden ein Überrollkäfig und ein Feuerlöschsystem verbaut und der Motor um rund 13 Kilo abgespeckt. Ab Werk hatte das Modell 195 PS, heute sind es deutlich mehr.

Mercedes-Benz 300 SL Werkstatt
Mercedes-Benz 300 SL

DER AUTOFLÜSTERER

Auf dem Rückweg kommen wir wieder an der malerischen Reifenkammer vorbei und wollen Matthias gerade fragen, wie viele Quadratzentimeter er inzwischen geschafft hat, da hält er inne, hebt seine Hand – und horcht. Noch ein IWC-Rennwagen? «Nein», grinst er, «der Chef!»

Ein Quietschen nähert sich, dann biegt tatsächlich Hans Kleissl um die Ecke – auf einem verrosteten alten Fahrrad. Er fand es auf dem Dachboden der Scheune, als er 1978 das baufällige Anwesen erwarb. Nostalgiker, der er schon immer war, breitete er seinen persönlichen Schutzschirm über ihm aus.

Man kann es nicht anders sagen: Der 71-jährige Kleissl ist eine Legende. Manche munkeln, ein Autoflüsterer. In der ganzen Welt weiss niemand so viel über den Mercedes-Benz 300 SL. Wird ein wichtiges Modell angeliefert, ist er der Erste, der sich hineinsetzt und eine Runde um Polling dreht. Er hört in die Autos hinein, spürt schon beim Fahren Schwachstellen, die andere selbst in der Werkstatt lange suchen. Er erkennt die Seele der Oldtimer, von denen er sagt, dass jeder anders ist, sich anders fährt, sich anders anfühlt.

Mercedes-Benz 300 SL Werkstatt
«Man baut eine persönliche Verbindung auf»: Matthias Ulrich kämpft sich seit vier Wochen durch drei Schichten Lack.
Mercedes-Benz 300 SL Steuerrad

Natürlich wollen wir wissen, welchen Wagen er am liebsten mag. Den Roadster von Romy Schneider da drüben? Den Flügeltürer von Sophia Loren daneben? Das erhabene Cabriolet in Urangelb, von dem lediglich deren drei hergestellt wurden? Oder gar das Modell von Frank Sinatra, das er eben verkauft hat? Kleissl, ein zurückhaltender, ruhiger, fast etwas melancholisch wirkender Mensch, der keine unnötigen Worte verliert, schüttelt den Kopf. Dann blitzen seine Augen auf, er lächelt sein verschmitztes Hollywood- Lächeln und sagt: «Komm mal mit!»

«AUCH ZSA ZSA GABOR, EVITA PERÓN
UND MARILYN MONROE
STIEGEN GERN BEI IHM EIN.»

 

EIN AUTO MIT GESCHICHTE(N)

Draussen auf dem Parkplatz steht ein mattsilberner Gullwing mit weinrotem Lederinterieur, ein raues Raubtier, kaum restauriert. Es handelt sich um das einstige Gefährt von Porfirio Rubirosa. Der dominikanische Diplomat, Polospieler und Playboy gilt als Vorbild für Ian Flemings James Bond. Seine schillernden Begleiterinnen, von Zsa Zsa Gabor über Evita Perón bis Marilyn Monroe, stiegen gern bei ihm ein. Und er gab gern ein wenig an. So überklebte er auf dem Tacho den Höchstwert von 270 mit 360 km/h. Es war nur eine von vielen Spielereien, die er sich erlaubte und von denen der 300 SL zu erzählen weiss, in den wir nun steigen.

Während Hans Kleissl den «Rubirosa» präzise über Landstrassen jagt, beginnt auch er zu erzählen. Von jenem Tag, als er als Jus-Student in der Münchner Leopoldstrasse stand, einen 300 SL Roadster vorbeifahren sah und sofort wusste: Das ist es! Sein Studium wurde zur Nebensache. Hans arbeitete, sparte, klaubte mit 27 Jahren jede müde Mark zusammen und erstand sein erstes «Traumauto». Es war in katastrophalem Zustand. Er musste es komplett zerlegen und neu aufbauen, suchte nach Hilfe und realisierte: Es gab niemanden, der sich wirklich auskannte. Also beschloss er, sich fortan dieser Arbeit zu widmen. «Die Autos waren billig», erzählt er: «Ich habe meinen ersten 190 SL mit 1500 Mark gekauft.» Er hatte nur ein Problem: Seine Verwandten fanden, dass es nun langsam gut sei mit den vielen Autos, die er bei ihnen unterstellte.

Als er von einer verstorbenen Tante eine Wohnung erbte, beschloss er, sie zu Geld zu machen und nach einem Ort zu suchen, an dem er seine Autos unterbringen, reparieren und restaurieren konnte. Industriehallen interessierten ihn nicht, Nostalgiker, der er ist. Also ging er zum Denkmalamt und erkundigte sich, welche Objekte in Bayern denn so zum Verkauf stünden, und klapperte sie alle ab. Als er nach Polling kam und den zerfallenen Klosterteil erblickte, erschrak er über den Zustand, sah aber das Potenzial und wusste: In diesem Moment begann seine Zukunft. Der Rest ist Geschichte.

Mercedes-Benz 300 SL Werkstatt
Ab Werk 195 PS, heute sind es einige mehr: Der IWC Racing Gullwing beim Check auf der Hebebühne.
Mercedes-Benz 300 SL
DIE MÖWE
Es war kein Marketing-Gag, der dem Mercedes-Benz 300 SL zu Flügeltüren verhalf, die Idee entstand aus der Not heraus: Beim 1954 entwickelten Sportwagen waren Stabilität und Leichtigkeit zentral. Dies wurde mit einem Gitterrohr-rahmen erreicht, auf dem die Karosserie liegt. Dadurch konnten aber keine vertikalen Türen eingebaut werden. So kam man auf Flügeltüren, die geöffnet einer fliegenden Möwe (englisch: «gull») gleichen.

Auf der Fahrt durch die pittoreske oberbayrische Bilderbuchlandschaft und dank dem «Rubirosa» auch ein bisschen durch die gute alte Zeit fragen wir Hans Kleissl, was ihn am meisten fasziniert an diesen Autos, denen er sein Leben gewidmet hat. Er taucht in eine Kurve, schaltet, beschleunigt, als ob er mit dem Gullwing abheben will, und sagt: «Diese Autos sind guten Uhrwerken nicht unähnlich: Es gibt keine Maschine, die ihnen neues Leben zuverlässiger einhauchen könnte als ein guter Mechaniker. Manchmal geht es um Tausendstelmillimeter und fast immer um viel Fingerspitzengefühl. Das Beste an diesen Objekten ist, dass sie Menschen brauchen: Menschen, die ihre Schönheit aufleben lassen. Und Menschen, die sich über diese Schönheit freuen.»

Mercedes-Benz 300 SL
Hat seine helle Freude an alten Autos, Gemäuern – und Fahrrädern: Hans Kleissl.
Mercedes-Benz 300 SL Polsterei
In der Sattlerei werden Sitze aufgepolstert und mit Originalstoffen neu bezogen.
Mercedes-Benz 300 SL Werkstatt
Zu jedem 300 SL gehört ein Koffer-Set.